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Mit dem Stuttgarter Arzt Jakob Heine begann die Erforschung der Kinderlähmung

Der Stuttgarter Arzt Jakob Heine lebte von 1800 bis 1879.
Vermögen und Bau (Landesbetrieb))Stuttgart. Warm Springs ist ein verschlafenes Dorf im US-Bundesstaat Georgia. 1945 schrieb der Ort Weltgeschichte. Hier starb am 12. April Franklin D. Roosevelt. Zur Erinnerung an den Präsidenten, der vermutlich an Kinderlähmung litt und ein Zentrum für Betroffene gegründet hatte, wurde in Warm Springs die „Polio Hall of Fame“ errichtet.
Die dortige Gedenkstätte vereinigt Büsten von Polio-Fachleuten aus aller Welt. Ganz vorne mit dabei: der Stuttgarter Jakob Heine. Der Mediziner hat die Krankheit im 19. Jahrhundert erstmals beschrieben und den Weg für Therapie sowie Vorsorge freigemacht.
Im Rückblick war es eine für die gesamte Menschheit gute Entscheidung, dass der Sohn eines Gastwirts aus Lauterbach (Schwarzwald) den ursprünglichen Berufswunsch, Priester zu werden, aufgab. Maßgeblich beeinflusst wurde der Wechsel zur Medizin durch den Onkel Johann Georg Heine. Er leitete in Würzburg eine orthopädische Heilanstalt.
Patienten aus ganz Europa vertrauen sich seiner Kunst an
Mit einer Studie über das Unterbinden der Schlüsselbeinarterie promoviert Jakob Heine 1827 zum Dr. med. Er arbeitet zunächst im Würzburger Juliusspital sowie in der Klinik des Onkels, ehe es ihn zurück nach Württemberg zieht. Im damals eigenständigen Cannstatt bei Stuttgart lässt er sich als Arzt nieder. Bald läuft die Praxis so gut, dass sie zur Kurklinik erweitert wird. Patienten aus ganz Europa vertrauen sich der orthopädischen Kunst Heines an.
Sein Ruhm basiert sowohl auf der Heilkraft der Cannstatter Quellen als auch auf den innovativen Bandagen, Stütz- und Streckapparaten, die der Würzburger Oheim entwickelt hat. Gleichzeitig begründet Jakob Heine ein weiteres Verfahren: Zur Stärkung von Knochen und Muskeln werden Turnübungen verordnet.
Die Cannstatter Badstraße ist die Geburtsstätte der deutschen Krankengymnastik. König Wilhelm I. von Württemberg besucht und fördert die zukunftsweisende Institution. Später ernennt der Monarch den Orthopäden zum Hofrat. Damit auch mittellose Kranke aufgenommen werden können, gewährt der Landtag Heine Zuschüsse.
Spezialgebiete der Anstalt sind Deformationen und Bewegungseinschränkungen der Wirbelsäule sowie der Extremitäten.
Vor allem ein Phänomen lässt den Arzt nicht mehr los: Kleine Kinder, die nach einem heftigen Fieber plötzlich ihre Beine nicht mehr bewegen können. Heine studiert diese Fälle intensiv. 1840 veröffentlicht er seine Ergebnisse in Buchform. Die Schrift „Beobachtungen über Lähmungszustände der unteren Extremitäten und deren Behandlung“ ist das Gründungsdokument der Polioforschung. Erstmals wird die Krankheit systematisch dargestellt und von Leiden mit ähnlicher Symptomatik (etwa Meningitis oder Enzephalitis) abgegrenzt.
Aufgrund des Alters der Patienten glaubt Heine anfangs, Probleme bei der Zahnung lösten die Krankheit aus. Später erkennt er die Rolle des Rückenmarks. Für eine Neuauflage ändert der Autor den Titel in „Spinale Kinderlähmung“.
Die tatsächliche Krankheitsursache konnte Heine noch nicht verstehen. Da Polio-Patienten nur selten im akuten Stadium starben, lagen damals kaum Obduktionsprotokolle von frischen Fällen vor.
Erst der Stockholmer Oskar Medin sollte die Kinderlähmung 1890 als Infektionskrankheit identifizieren. Ein Schüler des schwedischen Kinderarztes taufte das Leiden dann Heine-Medin-Krankheit.
Heines Pionierleistung bleibt unvergessen
Obwohl in der Wissenschaft mittlerweile der Begriff „Poliomyelitis“ gebräuchlicher ist, bleibt Heines Pionierleistung unvergessen. Aus seinen Schriften spricht ein überraschend empathischer Arzt, der auch die sozialen Konsequenzen der Krankheit für die Betroffenen mitbedachte.
In einem knallharten Wirtschaftssystem, in dem der Großteil der Jobs auf körperlicher Arbeit beruhte, galten Menschen mit Behinderung als „Krüppel“. Ihnen drohte bittere Armut. Deswegen versuchte Heine, für jeden Schützling ein Maximum an individueller Autonomie zu erreichen.
So kämpfte er nicht nur mit Krücken und Gymnastik gegen die gelähmten Beine. Seine Krankenanstalt beschäftigte auch pädagogische Kräfte, um die jungen Patienten auf eine ihren Fähigkeiten entsprechende Beschäftigung vorzubereiten. „Hilfe zur Selbsthilfe“ würde man heute sagen.
Fast alle Polio-Fälle sollen Cannstatt mit gesteigerter Mobilität und verbessertem Gangbild verlassen haben. Und mit dem Optimismus, trotz allem ihr Leben meistern zu können.

Welt-Polio-Tag
Die Einführung der Polio-Impfung ist eine der größten Erfolge der modernen Medizin. In der Bundesrepublik Deutschland kam es seit 1992 nicht mehr zu einer Ansteckung mit dem Virus. Die zuletzt in Klärwerken gefundenen Erreger stammen wohl aus der Impfung. Fachleute sehen darin keinen Grund zur Panik. Zum Welt-Polio-Tag, der dieses Jahr am 28.10. stattfindet, würdigen die Weltgesundheitsorganisation WHO und ihre Partnerinstitutionen auch die Leistung von Forschenden wie Heine.