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Serie: 50 Jahre Kreisreform

Wie das Plebiszit gegen die Kreisreform scheiterte

Wenn die Baden-Württemberger die Kreisreform anfangs der 70er-Jahre abgelehnt hätten, der Volksentscheid hätte die Möglichkeit zur Demonstration des Volkswillens geboten. Doch die Prioritäten des Souveräns lagen anderswo.

50 Jahre Kreisreform

Staatsanzeiger)

Stuttgart. Arthur Raither war stets im Einsatz für seine Bauern, für den Erhalt der Familienbetriebe und seinen Badischen Landwirtschaftlichen Hauptverband (BLHV). Dafür stritt er, die CDU schmiss ihn zwischenzeitlich aus der Partei: Ein Mann, der oft quer im Stall stand. Und so wurde er bei der Gründungsversammlung am Aschermittwoch 1971 Vorsitzender der Liga für eine demokratische Verwaltungsreform.

Dieser Zusammenschluss aus Parlamentariern, Landräten, Bürgermeistern und vielen Lehrern aus gefährdeten Landkreisen wollte alte Strukturen erhalten, die Kreisreform stoppen und das mit dem damals einzigen Druckmittel plebiszitärer Demokratie: Artikel 43 der Landesverfassung ordnete die Auflösung des Landtags an, wenn das in einem Volksentscheid die Hälfte der Wahlberechtigten beschließen. Dem Entscheid mussten bei einem Volksbegehren 200 000 Bürger zustimmen.

Für die Liga gab es schlechte Nachrichten im Staatsanzeiger

Liga-Chef und BLHV-Vorsitzender Raither etwa wollte, dass sein Hof im badischen Neubach im alten Kreis Überlingen nicht dem württembergisch geprägten Bodenseekreis zugeschlagen werde. Diesen sollte der von Raither wenig geliebte Karl Schiess der spätere CDU-Innenminister, als Landrat führen. Doch vielen Baden-Württembergern waren diese Betroffenheiten fremd.

So befürwortete die Mehrheit der Bevölkerung die Neuordnung der Kreislandschaft. 45 Prozent waren für die Verwaltungsreform, nur 10 bis 12 Prozent lehnten sie ab. 40 Prozent der Befragten war die Sache gleichgültig, so die Umfrage der Landesregierung, die der Staatsanzeiger am 20. Februar, vier Tage vor der Gründung der Liga veröffentlichte.  Auch die Modalitäten ließen den Volksentscheid als schwaches Druckmittel erscheinen. Dem Volksentscheid über die Auflösung des Landtags musste mindestens die Hälfte der Wahlberechtigten zustimmen, ein scharfes Quorum: Erst wenn über die Hälfte der damals 5,9 Millionen stimmberechtigten Baden-Württemberger sich an der Abstimmung beteiligten, hatte der Entscheid eine trübe Erfolgsaussicht. Hans Georg Wehling, langjähriger Abteilungsleiter Publikation der Landeszentrale für politische Bildung, sprach in einem Fachbeitrag von 1972 von „einer im Artikel 43 eingebauten Frustration“.

Auch die Finanzierung bereitete der Liga Sorgen. Sie beantragte beim Landtagspräsidenten Camill Wurz (CDU) als verfassungsmäßige Opposition zwei Millionen Mark Wahlkampfhilfe. Seine Ablehnung kam postwendend, kein Mandatsträger hatte ein Interesse an so einem Volksentscheid. Die Landesregierung rechtfertigte das Nein mit der fehlenden Nachhaltigkeit des Volksentscheids. Wahlkostenbeihilfe könne es nur für die Etablierung einer Entscheidungsinstanz durch Parteien im Landtag geben, nicht aber für die Einzelentscheidung, diese aufzulösen.

Statt auf den Präzedenzfall der Baden-Abstimmung im Vorjahr zu verweisen, wo das Land für den Heimatbund Badner Land 350 000 Mark springen ließ, wählte die Liga den Rechtsweg. Allerdings ging die Klage nicht an das Verwaltungsgericht, wie die Rechtsbehelfsbelehrung vom Landtagspräsident empfahl. Die Liga klagte vor dem Staatsgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht. Wehling vermutet, dass die Wahl der höchsten Gerichte dem Ansinnen mehr Publizität verschaffen sollte. Mehr Erfolgsaussichten verschaffte sie nicht, mangels Zuständigkeit wurden die Klagen abgewiesen.

Nur in Nürtingen nahm das Wahlergebnis alle Hürden

Zuvor sammelte die Liga Unterschriften, erst 10 000 für das Volksbegehren auf die Sammlung von 200 000 Stimmen, dann die 200 000 Stimmen selbst, was beides knapp gelang. Gescheitert ist die Abstimmung am 19. September 1971. Nur 16 Prozent waren zur Wahl gegangen. Da spielte es angesichts des Quorums keine Rolle mehr, dass 54,4 Prozent der Wähler Neuwahlen wollten.

Allein in Nürtingen, wo der Kreis aufgelöst und das Landratsamt nach Esslingen gehen sollte, hatten sich ausreichend viele Wähler für die Parlamentsauflösung ausgesprochen. Ansonsten verfehlte die Initiative ihr Ziel teils überdeutlich. So urteilte die Stuttgarter Zeitung, die Liga sei ein Sammelbecken Unzufriedener, „das keine sachlichen Gründe gegen die vom Landtag beschlossene Kreisreform vorzubringen wusste.“

Heute würde so ein Volksentscheid wegen geänderter Vorschriften scheitern. Es braucht laut Artikel 43 zehn Prozent der Wahlberechtigten, um den Volksentscheid einzuläuten. Bei der jüngsten Bundestagswahl waren das 7,7 Millionen – ohne die Bürger zwischen 16 und 18, die jetzt wahlberechtigt sind. Außerdem ermöglicht die Verfassung heute Volksentscheide auch über Gesetze. Verfassungsänderungen dazu gab es Mitte der 70er Jahre, als die allein regierende CDU sich mit der SPD verständigte. Noch heute wäre Bauern-Präsident Raither übrigens vom BLHV vertreten. Dieser bezieht sich weiter auf das alte Land Baden.

50 Jahre Kreisreform

Die Kreisreform

Vor 50 Jahren trat die Kreisreform in Kraft. Aus ehemals 63 teils sehr kleinen Landkreisen wurden 35 neue Gebietskörperschaften. Die Große Koalition in Stuttgart zwischen SPD und CDU von 1968 bis 1972hat das Projekt angeschoben.

In einer Serie befasst sich der Staatsanzeiger mit den Voraussetzungen, Wirkungen und der Geschichte der Kreisreform.

Peter Schwab

Peter Schwab kümmert sich um verschiedene Journale der Zeitung und arbeitet außerdem im Crossmediateam und im Ressort Kreis und Kommune. Schon während seines Jura-Studiums hat er für verschiedene Zeitungen geschrieben, später volontiert und als Lokalredakteur gearbeitet. Nach seiner Zeit als Pressesprecher hat er erneut die Seiten gewechselt und ist 2022 zum Staatsanzeiger gegangen – und damit zum guten alten Journalismus zurückgekehrt.

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