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„Wunder von Wertheim“: Eine Stadt rettet die Klinik

Das Bürgerspital thront lila angestrichen vor den Toren der historischen Altstadt. Wertheim hat die Rotkreuzklinik gekauft und im Januar wiedereröffnet.
Stadt Wertheim)Wertheim. Im Sommer 2024 war Wertheim reif für ein Wunder. Die Rotkreuzklinik hatte im September 2023 Insolvenz angemeldet – im Juni vergangenen Jahres musste das 200-Betten-Haus schließen. Die Schwesternschaft des Bayerischen Roten Kreuzes hatte zuletzt ein Defizit von sechs Millionen Euro verzeichnet. 2000 Bürgerinnen und Bürger forderten auf dem Marktplatz: Die Stadt müsse das Krankenhaus retten. Denn in „badisch Sibirien“, wie die Einheimischen ihre Region nennen, sind die Wege im Notfall lang: 26 Kilometer bis Tauberbischofsheim, 33 Kilometer ins bayerische Lohr. Zuständig ist Bad Mergentheim – aber auch 44 Kilometer entfernt.
„Im ländlichen Raum wie Wertheim bedeutet eine Schließung, dass Menschen 40 bis 50 Minuten zum nächsten Krankenhaus fahren müssen“, sagt Oberbürgermeister Markus Herrera Torrez (SPD). Weil weder das Land noch der Landkreis eine Lösung boten, wuchs der Druck auf die Stadtverwaltung und den Gemeinderat. „Die Bürger sagten: Es hilft kein anderer – also müsst ihr es lösen“, so der 37-jährige Rathauschef.
Ein neues Konzept mit privaten Anbietern musste her
Im August 2024 erwarb die Stadtentwicklungsgesellschaft das Klinikgebäude samt Inventar. Einen Kaufpreis für das 2016 eröffnete Haus nennt Herrera Torrez nicht, betont aber: „Wir sind deutlich unter dem damaligen Neubaupreis von 40 bis 50 Millionen Euro geblieben.“
Eine kommunale Trägerschaft wurde geprüft, hätte aber bis 2030 ein Defizit von rund 50 Millionen Euro bedeutet – zu viel für die 23.000-Einwohner-Stadt. Ein neues Konzept mit privaten Anbietern musste her. „Hochdruckarbeit“, sagt der OB.
Seit Jahresbeginn sind drei Gesundheitsanbieter eingezogen: Die Westfalenklinikgruppe aus Dortmund übernimmt im Bürgerspital die Grund- und Notfallversorgung, außerdem eine Adipositas-Fachabteilung. Mediclin betreibt eine neurologische Reha, das bestehende Nierenzentrum bleibt erhalten. Der Krankenhausbetrieb mit 95 Betten startete im Januar. „Die drei Mieter füllen das Gebäude komplett aus – bis zur letzten Putzkammer“, sagt Herrera Torrez. Über die Mieteinnahmen soll langfristig der Kaufpreis refinanziert werden. Eigentümerin bleibt die Stadtentwicklungsgesellschaft.
Lokale Medien sprechen vom „Wunder von Wertheim“
Lokale Medien sprechen vom „Wunder von Wertheim“ – gemeint ist der beispiellose Kraftakt von Stadt und Bürgerschaft. Denn ohne die Hilfe von Ehrenamtlichen, Unternehmen und Spendern wäre die Wiedereröffnung nicht gelungen.
Die Stadt beteiligt sich finanziell: Wertheim hat sich verpflichtet, für die Notfallversorgung einen jährlichen Defizitausgleich von bis zu 2,75 Millionen Euro zu leisten. Liegt das Minus darunter, zahlt die Stadt entsprechend weniger; bei höheren Kosten bleibt das zusätzliche Minus beim Betreiber des Bürgerspitals. „Die Konstellation ist zukunftsfähig“, meint der OB, „weil das Haus spezialisierte Angebote mit einer zentralen Notaufnahme für die Grundversorgung kombiniert.“ Juristisch ist das Modell anspruchsvoll – denn eine Kommune unterstützt hier einen privaten gemeinnützigen Krankenhausbetrieb. Möglich macht das eine sogenannte Ausgleichs- und Betreuungsvereinbarung, die laut Stadt EU-rechtskonform ist. „Wir haben das gemeinsam mit Experten gerichtsfest gestaltet“, sagt Herrera Torrez.
Um den Fehlbetrag zu decken, hat die Stadt Investitionen geschoben und Gewerbe-, Grund- sowie Vergnügungssteuer erhöht. Auch Nachbarkommunen auf bayerischer Seite beteiligen sich nun finanziell an der Rettung, was zunächst nicht möglich war – auch das war „ein harter Kampf“, wie der OB sagt. Unternehmen spendeten bislang 800.000 Euro. Ein Zeichen für den OB, dass trotz der erheblichen Gewerbesteuererhöhung die Unterstützung anhält. Der Krankenhausförderverein wuchs seit Februar von 300 auf über 1100 Mitglieder. Sogar die Winzer halfen: Mit einer Sonderedition ihres Weins – „Zehnt“ – geht ein Zehntel des Verkaufspreises an die Notfallversorgung.
Die Cafeteria erinnert eher an eine Lounge als an ein Krankenhaus
Guido Waldmann ist vom Wertheimer Klinikkonzept überzeugt. Er ist Facharzt für Neurologie und seit 2009 bei Mediclin tätig. Der Reha-Konzern mit Sitz in Offenburg betreibt bundesweit rund 8000 Betten. In Wertheim behandelt Waldmann mit seinem Team neurologische Patienten – etwa nach einem Schlaganfall. Beim Rundgang durch die Klinik zeigt sich der Chefarzt stolz. Die Cafeteria erinnert eher an eine Lounge als an ein Krankenhaus. „Das Gebäude ist neuwertig, modern ausgestattet, barrierefrei – optimal für die Rehabilitation“, sagt er.
Ein Vorteil für Mediclin sei die unmittelbare Nähe zur Akutklinik. Patienten mit plötzlich verschlechtertem Zustand könnten so rasch weiterbehandelt werden. Waldmann betont: Viele Krankenhäuser überlegten, wie sie Patienten nach kurzer stationärer Behandlung sinnvoll weiterversorgen können. Hier setzt das „Campus-Modell“ des Konzerns an. „Wir bringen die Rehabilitation näher an die Akutkliniken – in die Städte – und bauen gezielt Kooperationen, um bestimmte Bereiche besser versorgen zu können“.
Der Main-Tauber-Kreis beteiligt sich mit 625.000 Euro
Landrat Christoph Schauder (CDU) zeigte sich dagegen skeptisch über das Modell. Die Stadt- und Landkreise müssen für leistungsfähige Krankenhäuser sorgen. Schauder verweist auf zwei weitere Kliniken in Tauberbischofsheim und Bad Mergentheim, an denen der Landkreis selbst beteiligt ist. „Ich sage klar, dass ich es gut finde, dass es in Wertheim wieder ein Krankenhaus mit Notaufnahme gibt. Aber ich sage auch, dass die Gesundheitsholding Tauberfranken (GHTF) den zentralen Beitrag zur Versorgung des Landkreises mit leistungsfähigen Krankenhäusern liefert“. Dort arbeiten rund 2100 Menschen, „die momentan auch Sorgen haben“. Schauder will alles dafür tun, dass die Häuser auch nach der Krankenhausreform leistungsstark aufgestellt sind.
Der Main-Tauber-Kreis beteiligt sich in Wertheim mit 625.000 Euro pro Jahr, allerdings erst ab 2026 bei steigender Kreisumlage, wie Herrera Torrez betont. Ursprünglich hatte er auf 1,2 Millionen Euro jährlich gehofft.
Herrera Torrez hätte sich auch organisatorische Hilfe gewünscht
Geld vom Land bekommt Wertheim dagegen nicht. Hilfe aus Stuttgart hätte sich Herrera Torrez aber nicht nur finanziell, sondern auch organisatorisch gewünscht – denn die Stadtverwaltung hat keine eigene Abteilung für Gesundheitspolitik. Die Krankenhausrettung wurde vom kleinen Team der Wirtschaftsförderung gestemmt. „Wir als Stadt wurden in dieser Diskussion weitestgehend alleine gelassen“, sagt er offen.
Das Sozialministerium betont, dass im Fall Wertheim „intensive Gespräche“ geführt worden seien. Ob sich das Modell auch auf andere Kommunen übertragen lässt, lässt das Ministerium jedoch offen. Wer ein Krankenhaus betreibt – ob ein privater, öffentlicher oder freigemeinnütziger Träger – sei keine Frage der Landesplanung für eine bedarfsgerechte Krankenhausversorgung. Ebenso wenig sei es Sache des Landes, ob Kommunen Klinikräume vermieten. Spezielle Beratungsangebote für Städte und Gemeinden zur stationären Versorgung gibt es laut Ministerium derzeit nicht.
Immerhin: Das Land hat den Standort inzwischen in den Krankenhausbedarfsplan aufgenommen.
Die Notfallpraxis bleibt – weil die Notaufnahme bleibt
Ohne die Klinikrettung hätte Wertheim wohl auch die Notfallpraxis verloren. Der ärztliche Bereitschaftsdienst bliebt, weil die zentrale Notaufnahme weitergeführt wird. Die Kassenärztliche Vereinigung habe erkannt, dass die Wege nach Bad Mergentheim schlicht zu weit sind.
„Wir haben eine Verantwortung übernommen, die eigentlich nicht bei uns liegt“, bilanziert Herrera Torrez in seinem Amtszimmer und fügt hinzu: „Aber am Ende fragt keiner danach, dann muss man zupacken und sich der Verantwortung stellen.“
In der nördlichsten Stadt Baden-Württembergs sitzen zahlreiche Weltmarktführer, die Wirtschaft ist nicht einseitig abhängig vom Automobilsektor. „Zum Glück sind wir wirtschaftlich stark aufgestellt“, betont der Rathauschef.
Trotzdem bleibt die Klinikrettung ein finanzieller Kraftakt. Allein die Kreisumlage kostet die Stadt inzwischen über 15 Millionen Euro jährlich. „Die Notfallversorgung wird immer defizitär bleiben“, so Herrera Torrez. „Wir hoffen auf langfristige Unterstützung durch den Landkreis, die Kommunen und Spenden.“
Mittelfristig soll sich das Defizit durch die gute Entwicklung des Krankenhauses verringern – aber in den ersten zwei bis vier Jahren sei das unrealistisch. Ob die Unterstützung aus der Bevölkerung anhält, wird sich zeigen, so der Rathauschef.
Modell als Blaupause für andere?
„Bei Krankenhaus-Strukturänderungen zeigt sich immer wieder, dass man vor Ort individuelle Lösungen finden muss“, so die Baden-Württembergische Krankenhausgesellschaft (BWKG). Insofern gebe es keine Blaupause, die man auf andere Regionen eins zu eins übertragen könnte. Ähnliche Projekte wie in Wertheim sind weder der BWKG noch dem Sozialministerium bekannt.
Der Städtetag betont, dass Bund und Land die Kommunen bei ihren Aufgaben unterstützen müssen. „Wenn Städte in die Vor-Finanzierung gehen, müssen die Mittel wieder in die städtischen Haushalte zurückfließen“.