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Schulsystem

„Die beste Schülerstromlenkung ist eine attraktive zweite Säule“

Derzeit ringen vier Parteien im Landtag um einen Schulfrieden. Die Vorstellungen der Grünen zur künftigen Bildungspolitik erläutert ihr Landesvorsitzender Pascal Haggenmüller im Interview mit Johanna Henkel-Waidhofer.

Der Landesvorsitzende der Grünen, Pascal Haggenmüller, plädiert für ein Zwei-Säulen-Modell im Schulsystemer.

IMAGO/dts Nachrichtenagentur)
Staatsanzeiger: In den vergangenen Jahren haben rund und ein Viertel aller Kinder, die auf die Realschule wechseln, eine Empfehlung fürs Gymnasium. Wenn auch nur ein Teil davon künftig das neunjährige Gymnasium wählt, werden Standorte überlaufen. Was tun?

Haggenmüller : Diese Gesellschaft verändert sich. Wir werden in Zukunft wohl mehr Menschen mit Abitur oder einem starken Mittleren Bildungsabschluss brauchen, die in eine duale Ausbildung gehen. Das kann das allgemeinbildende Gymnasium allein nicht leisten. Entscheidend für ein gut funktionierendes neues G9 ist deshalb auch die Attraktivität einer starken integrativen zweiten Säule neben dem Gymnasium. Es muss mehr als nur einen Weg zum Abitur geben.

Die Grundschulempfehlung soll wieder verbindlicher und, wenn Lehrkräfte mit dem Elternwillen nicht einverstanden sind, mit einer Prüfung kombiniert werden. Ist das der richtige Weg?

Ich halte wenig davon mit einer Art Grundschulabitur noch mehr Stress und Druck in die Grundschulen und Familien zu bringen. Wir müssen das Gegenteil tun: Gleichwertige Chancen und Bildungswege ermöglichen. Die beste Schülerstromlenkung ist eine attraktive zweite Säule. Damit geben wir den Kindern und Familien den Raum sich zu entwickeln und alle Bildungsabschlüsse im eigenen Tempo zu erreichen. Es geht darum, dass alle weiterführende Schulen durchlässiger und vergleichbarer werden. Durchlässigkeit führt zu Bildungsgerechtigkeit. Das erfüllt unser Bildungssystem bisher nicht. Wir müssen die Möglichkeit des gymnasialen Lernens, das sogenannte E-Niveau, ab Klasse 5 auch in den anderen Schularten anbieten, damit Kinder lückenlos an ihr Erlerntes anschließen können und nicht bei Null beginnen müssen. Die Gemeinschaftsschule besitzt dafür bereits die pädagogischen Konzepte.

Die Bundes-CDU hat sich 2011 in Leipzig auf ihrem Parteitag auf ein zweigliedriges Schulsystem ab der fünften Klasse – als anzustreben – festgelegt. Annette Schavan sprach von der Oberschule neben dem Gymnasium und dem „klaren Ziel des Zweiwegemodells“. Wie könnte diese Erkenntnis 13 Jahre später auf dem Weg zur Bildungsallianz für Baden-Württemberg wiederbelebt werden?

Wer ein ganzheitliches Update des Bildungssystems fordert, kommt um Schulstrukturfragen nicht herum. Längeres gemeinsames Lernen ist heute in allen erfolgreichen Bildungsnationen State of the Art. Es tut Politik immer gut, sich eng an der Wissenschaft zu orientieren, weil wir ein gemeinsames Ziel haben: Am Schluss das beste Ergebnis für alle Kinder im Land zu erzielen. Dafür müssen wir uns alle bewegen. Ich hänge auch nicht an Bezeichnungen und Überschriften für Schularten. Entscheidend ist, was in der Schule steckt.

Gerade in der so wichtigen Bildungspolitik gibt es viele stark gefestigte Meinungen. Wie können die aufgebrochen und Kompromisse schmackhaft gemacht werden? Nicht zuletzt, aus Gründen finanzieller Effizienz.

Wer möchte, dass diese Debatte zum Erfolg führt, muss sie ohne Scheuklappen und Vorfestlegungen führen, sondern die inhaltlichen Fragen auf der Höhe der Zeit beantworten. Uns muss doch allen klar sein: Die Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft liegt nicht in den Schulstrukturen des vergangenen Jahrhunderts. Ein Zurück und ein „mehr vom Alten“ kann es deshalb nicht geben. Die Gesellschaft verändert sich durch Technik und Digitalisierung. Wir brauchen deshalb mehr Kompetenzlernen in der Schule. Die Herausforderungen treffen alle Schularten in allen Altersstufen. Wir sollten uns deshalb überlegen, ob wir uns dieses ausdifferenzierte Schulsystem als Gesellschaft noch leisten können oder ob wir mit einem Zwei-Säulen-Modell einen klaren Rahmen schaffen, in dem wir unter einem Dach differenziertes Lernen in individuellen Geschwindigkeiten ermöglichen. Dann können wir auch mehr Ressourcen darauf verwenden, was wirklich zählt: Die Qualität des Unterrichts.

Rund um die Bildungsallianz wird viel Strategie und Taktik gesprochen. Wie können die Hauptbetroffenen, Kinder und Jugendliche, die heute schon in der Schule sind, gerade die, die vom Aufstieg durch Bildung profitieren müssten – Stichwort: Fachkräfte -, mehr in den Mittelpunkt rücken?

„Wir lassen kein Kind zurück“ – Dieses bildungspolitische Ziel verlangt nicht nur unser gesellschaftliches Miteinander, sondern inzwischen auch die wirtschaftliche Vernunft. Wir können es uns nicht leisten, dass Jugendliche die Schule abbrechen oder nicht den für sie bestmöglichen Abschluss erreichen. Und wir wissen: Der Erfolg der Bildungsbiografie entscheidet sich in der Grundschule. Deshalb steht für uns insbesondere die Stärkung der Grundschulen und damit der Basiskompetenzen im Fokus. Ein weiterer Baustein, um dem Fachkräfte- und Arbeitskräftemangel zu begegnen, ist der Ausbau der beruflichen Orientierung in den weiterführenden Schulen. Egal ob im Handwerk oder in der Pflege, wir müssen dringend unsere Ausbildungsberufe stärken und ihnen die nötige gesellschaftlichen Anerkennung geben.

Das Gespräch führte Johanna Henkel-Waidhofer

Brigitte Johanna Henkel-Waidhofer

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