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„Die Demokratie bröselt, das macht mich unruhig“

Martin Gross ist seit 2016 Vorsitzender des Verdi-Landesbezirks Baden-Württemberg. Am 5. Juli tritt er aus Altersgründen zurück.
Achim Zweygarth)Staatsanzeiger: Nach neun Jahren an der Spitze treten Sie am 5. Juli vom Verdi-Landesvorsitz zurück. Wie geht es für Sie persönlich weiter?
Martin Gross: Erst mal mache ich zwei Wochen Urlaub, um den Schalter umzulegen. Dann übergebe ich die Geschäfte und helfe noch ein bisschen mit. Ich werde meine Nachfolgerin, voraussichtlich Maike Schollenberger, bei der Personalkalkulation und Bewerbergesprächen unterstützen. Am 1. November ist dann wirklich Schluss.
Und anschließend?
Dann wird die Liste am Kühlschrank abgearbeitet. Sie kennen meine Frau nicht (lacht). Außerdem bin ich gerade zwei Mal Opa geworden. Das ist auch eine schöne Sache. Im September kandidiere ich zudem für den VdK-Vorsitz im Kreis Tübingen.
Sie bleiben also politisch aktiv.
Die Demokratie beginnt zu bröseln. Das macht mich unruhig. Ich kann da nicht einfach so loslassen. Ich hätte mein Amt gerne in einer einfacheren Situation übergeben, aber die Zeiten sind, wie sie sind.
Was überwiegt, wenn Sie auf neun Jahre an der Verdi-Spitze zurückschauen? Das Positive oder das Negative?
Klar gibt es den einen oder anderen Punkt, bei dem ich sage: Das hätte ich vielleicht im Rückblick anders gemacht. Doch ich bin mit mir im Reinen. Wir haben einen großen Veränderungsprozess hinter uns, um aus fünf Gewerkschaften und zahlreichen Fachgruppen eine schlagkräftige Dienstleistungsgewerkschaft zu formen. Wir haben unsere Kommunikation deutlich verbessert und ein Service-Center aufgebaut. Da kann jedes Mitglied von 8 bis 18 Uhr anrufen und wird beraten oder verbunden. Bei uns kommt jeder Anrufer durch und darauf bin ich stolz.
Niederlagen gab es aber auch.
Natürlich gab es die. Was ist das für ein Gewerkschaftssekretär, dem alles gelingt? Manchmal klappte eine Betriebsratsgründung nicht. Es gab Tarifnächte, wo ich nach Hause ging und nicht ganz zufrieden war. Und es gab Betriebsschließungen, wo ich um jeden Cent Abfindung gekämpft habe und trotzdem dachte: Mist, du hast einen guten Job gemacht und trotzdem sind die Kolleginnen und Kollegen arbeitslos.
Ein Problem, mit dem die Kollegen von IG Metall täglich konfrontiert sind. Profitiert die Dienstleistungsbranche davon, dass gerade so viele Industriearbeitsplätze verloren gehen?
Das ist nicht so einfach. Jeder hofft, dass der Kelch an ihm vorübergeht. Das zeigt sich auch daran, dass der Weiterbildungstarifvertrag der IG Metall wenig genutzt wird. Wir könnten schon den einen oder anderen gut gebrauchen. In den Kitas werden immer noch viele Kräfte gesucht.
Das müssen Sie aber noch Überzeugungsarbeit leisten. Das kann sich nicht jeder, der bislang in der Automobilindustrie gearbeitet hat, vorstellen.
Da müssen wir alle raus aus dem Silodenken. Die Menschen müssen begreifen, dass es Branchen gibt, in denen die Arbeit weniger wird. Und dann braucht es eine Brücke in Branchen, wo Arbeitskräfte gebraucht werden, auch auf lange Sicht. Wir versuchen, den Quereinstieg zu erleichtern – mit dem Programm „Quereinstieg Kita“, das wir zusammen mit der Bundesagentur für Arbeit entwickelt haben. Das ist so ein bisschen mein Baby. In den letzten zwei Jahren hatten wir 1800 Teilnehmer. Sie werden dort sozialpädagogische Assistentinnen und Assistenten. Ein Drittel bringt es sogar bis zur Erzieherin oder zum Erzieher.
Seit 2001 ist die Mitgliederzahl von Verdi von 2,8 auf 1,9 Millionen gefallen. Wenn die Entwicklung so weitergeht, steht Ihre Gewerkschaft in 50 Jahren bei null.
Das hoffe ich nicht und davon gehe ich auch nicht aus. Wir verlieren Mitglieder, die in den 70er-Jahren zu uns kamen, etwa durch Tod und weil sie in Rente gehen. Das waren gewerkschaftsstarke Jahrgänge. Wir werden aber in anderen Bereichen immer stärker.
Verdi ist also keiner dieser Männergesangsvereine, die auf eine reiche Tradition zurückblicken, sich jetzt aber mangels Masse auflösen.
Nein. Allein schon deshalb, weil wir immer weiblicher werden. Nicht nur an der Spitze. Gesundheit, Pflege, Kita, Soziales – das sind die Bereiche, in denen wir stärker werden. Wir werden eine andere Gewerkschaft als 2001 sein, aber wir werden eine Gewerkschaft bleiben und wir werden auch wieder wachsen. Vielleicht gründen wir irgendwann einen feministischen Chor.
Einen Frauengesangsverein.
Genau. Wenn sich die Linien kreuzen. Allein dieses Jahr sind in Baden-Württemberg fast 10 000 Mitglieder neu eingetreten. Im Moment sind wir bei knapp 210 000.
Auf Bundesebene bilden Sie eine Verhandlungsgemeinschaft mit dem Beamtenbund. Da rumort es gewaltig. Der Unmut darüber, dass Verdi immer wieder Extras für die unteren Einkommensgruppen durchdrückt, wächst.
Das wissen wir. Wir spüren den Druck am Verhandlungstisch. Dennoch müssen wir auch in Zukunft mehr für die unteren Einkommensgruppen tun. Aber wir brauchen auch eine Idee für die, die mehr verdienen. Was wir getan haben, war richtig: Wir mussten angesichts der Inflation die unteren Einkommensgruppen stärken, auch wenn das Gehaltsgefüge gestaucht wurde.
Den Kommunen geht es schlecht. Bereitet das Ihnen Sorgen?
Ja. Wenn die Kommunen in die Knie gehen, dann geht die Demokratie kaputt. Die Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern zur Eindämmung drohender Steuermindereinnahmen verschaffen den Kommunen Luft bis 2029, machen aber nichts grundsätzlich besser. Es ist höchste Zeit, dass sie mehr von der Umsatzsteuer bekommen. Die Mindereinnahmen für das Land ließen sich locker ausgleichen, wenn wir eine nicht allzu hohe Vermögenssteuer hätten.
Und eine höhere Erbschaftssteuer?
Ja. Ich würde bei zehn Millionen Euro beginnen. Da ginge es nicht um Umverteilung, sondern nur darum, dass diese Leute ein bisschen weniger schnell reicher werden.
Sie sind in keiner Partei, auch nicht in der SPD – anders als Ihre Vorgängerin Leni Breymaier, die SPD-Landesvorsitzende war, und Ihre Stellvertreterin Hanna Binder, die es in den Landtag zieht. Würden Sie sich eine SPD-Beteiligung an der nächsten Landesregierung wünschen?
Das ist eine schwierige Frage – so kurz vor dem Ruhestand (lacht). Ich wünsche mir eine Landesregierung, die das Soziale wieder mehr in den Fokus nimmt und die weiß, wie es Menschen geht, die täglich hart arbeiten und dabei nicht reich werden. Ich halte als Gewerkschafter den Anschluss an alle demokratischen Parteien für wichtig. Insbesondere zu Personen, die sich in Arbeitnehmerfragen engagieren. Dazu gehört natürlich die SPD. Aber deswegen ist es mir eine Selbstverständlichkeit, dass ich auch zu CDA-Landeschef Christian Bäumler einen guten Draht pflege.
Auch zu CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, der deutliche Verschärfungen beim Bürgergeld fordert?
Nein. Ich finde es unmöglich, wie der auf die Menschen runterschaut.
Und die anderen Parteien?
Es gibt Linke, die ihre Sache sehr gut machen. Auch bei den Grünen gibt es Leute, die ich sehr schätze. Selbst wenn ich das Gefühl habe, dass der sozialpolitische Flügel nicht mehr so präsent ist wie früher: Anschlussfähigkeit ist essenziell, gerade in einem Bundesland wie unserem.
Aber nicht zur AfD?
Nein. Da geht es nicht mehr um Argumente, es geht um Diffamierung, es geht darum, Menschen herabzusetzen. Das ist ein Politikmodell, das immer mehr um sich greift. Das widerspricht meiner Lebenseinstellung. Auch wenn ich anderer Meinung bin, muss ich den anderen respektvoll behandeln. Denken Sie nur an die Arbeitszeitdebatte, wo es mich ziemlich ärgert, was der Ministerpräsident vom Stapel lässt.
Warum? Sind wir nicht faul, wie Winfried Kretschmann und Friedrich Merz behaupten?
Nein. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn die Krankenschwester, die eigentlich schon Feierabend hat, ein Spezialpflaster aus der Krankenhausapotheke holt und noch mal zurück zur Patientin geht. Wenn meine Tochter in der Kita aushilft, obwohl sie eigentlich an dem Tag Dienstpläne schreiben müsste. Wenn der Busfahrer, der eigentlich Pause hat, sie nicht nimmt, weil er zur nächsten Tour pünktlich starten will. Das soll faul sein? Das ist wirklich absurd. Solche Aussagen führen zur Politikverdrossenheit. Ich frage mich: Warum driften so viele Menschen ab?
Und wählen Parteien wie die AfD?
Verstehen kann ich das nicht. Doch das hat auch damit zu tun, dass sie sich von der Politik nicht aufgehoben fühlen. Ich bin kein Merkel-Fan. Aber Angela Merkel, die konnte so etwas noch ausstrahlen.
Zur Person: Martin Gross
Bei seinem Nachnamen muss man aufpassen – sowohl was die Schreibweise (kein „ß“), als auch, was die Aussprache (kurzes „o“) angeht. Wie es dazu kam, weiß Martin Gross nicht. Wohl aber, dass sein Vater aus dem heutigen Tschechien und seine Mutter aus Ungarn stammte. Ihre Vorfahren waren einst aus Betzingen ausgewandert, einem heutigen Stadtteil von Reutlingen, wo die Familie nach dem Krieg heimisch wurde.
Martin Gross besuchte die Realschule, lernte Groß-und Außenhandelskaufmann und arbeitete als Disponent im Lebensmittelgroßhandel. 1984 begann seine Gewerkschaftskarriere, erst in der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, ab 2001 dann bei Verdi. Dort wurde er 2002 Bezirksgeschäftsführer und 2015 stellvertretender Landesbezirksleiter. 2016 löste er Leni Breymaier an der Spitze des Landesbezirks ab. Nun geht er mit bald 65 Jahren in den Ruhestand. Ihm soll Maike Schollenberger nachfolgen. Sie ist 35 Jahre alt und seit zwei Jahren seine Stellvertreterin.
