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Interview: Mehmet Daimagüler

„Die Kriminalisierung der Sinti und Roma führte mit nach Auschwitz“

Der Antiziganismusbeauftragter der Bundesregierung, Mehmet Daimagüler, ist keiner, der einfach nur zuschaut, wenn seiner Ansicht nach Unrecht geschieht. Er steht auf der Seite der Schwachen, ob es nun um NSU-Opfer oder Sinti und Roma geht.

Mehmet Daimagüler ist seit 1. Mai 2022 Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland.

Achim Zweygarth)
Staatsanzeiger: Was bringt einen Deutschen mit türkischen Wurzeln dazu, sich für Sinti und Roma zu engagieren?

Mehmet Daimagüler: Ich habe gesehen, wie vor Armut geflüchtete Roma behandelt werden. Von Passanten, vom Ordnungsamt und von der Polizei. Da wird geschubst, geschlagen, geduzt und vertrieben. Irgendwann habe ich mich eingemischt. Weil ich glaube, dass es meine Bürgerpflicht ist, mich auf die Seite derjenigen zu stellen, die bedrängt werden. Ich wollte diese kalte Empathielosigkeit nicht länger akzeptieren.

Was haben Sie dann getan?

Ich habe angefangen, Angehörige aus der Community anwaltlich zu vertreten. In Fällen von Polizeigewalt zum Beispiel. Etwa einen elfjährigen Jungen aus Singen, bei dem die Polizeibeamten dachten, sie könnten ihn schikanieren, nur weil er Sinto ist. Und anschließend unglaubliche Lügengeschichten in die Welt setzen. Bis zum heutigen Tag hat sich niemand bei der Familie entschuldigt. Doch auf Landesebene, und das möchte ich positiv festhalten, hat sich der Landesverband Sinti und Roma sehr schnell mit Innenminister Strobl zusammengesetzt und sie haben ein Bildungsprogramm für die Polizei entwickelt. So muss es laufen.

Hat Ihr Engagement auch damit zu tun, dass Sie als Mensch mit Migrationshintergrund ähnliche Erfahrungen gemacht haben?

Ich würde es nicht auf den Migrationshintergrund schieben. Wenn ich Schwede wäre und Zahnarzt, hätte ich vermutlich andere Erfahrungen gemacht. Aber ich sage mal so: Rassismus-Erfahrung ist schon wichtig. Das Gefühl, man ist dabei, aber bleibt doch irgendwo Außenseiter: Das hilft. Aber eines möchte ich deutlich sagen: Ich würde mich nie vor Sinti und Roma stellen und sagen, „ich verstehe euch“.

Warum nicht?

Ich weiß, was es bedeutet, wenn man nicht dazugehört. Aber ich glaube, es geht nochmal tiefer, wenn man hier seit Jahrhunderten zu Hause ist und trotzdem nicht dazuzählt. Wenn man weiß, dass es keine andere Heimat gibt. Und eine ganz andere Nummer ist es, wenn man der Sohn, der Enkel oder Urenkel von Menschen ist, die im Konzentrationslager waren. Wie muss es sein, in einem Land zu leben, das diesen Völkermord nach wie vor entweder gar nicht oder nur halbherzig anerkennt?

Welche Bedeutung hat Baden-Württemberg für Ihre Arbeit?

Eine ausgesprochen große. In Heidelberg befinden sich das Dokumentations- und Kulturzentrum und der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma. An der Universität Heidelberg gibt es ein Forschungsnetzwerk. An der Pädagogischen Hochschule existiert ein Programm für Lehrerinnen und Lehrer zum Thema Rassismus. Baden-Württemberg ist für mich unter verschiedenen Blickwinkeln wichtig und vorbildlich. Die Landesregierung hat einen in vielerlei Hinsicht vorbildlichen Staatsvertrag mit den Sinti und Roma geschlossen. Das ist ein Pfund, mit dem das Land wuchern kann.

Auch im internationalen Maßstab?

Ja. Die Grundlagenarbeit, die in Heidelberg geleistet wird, wird weltweit anerkannt. Letztes Jahr war die Sonderbeauftragte des Weißen Hauses für das Holocaust-Gedenken zu Besuch und schaute sich das Dokumentations- und Kulturzentrum an, weil in den USA der Völkermord an den Sinti und Roma noch nicht so präsent ist. Ich finde, was hier passiert, muss verstetigt und ausgebaut werden. Meine Vorstellung wäre, dass sich in Heidelberg das weltweit führende Forschungszentrum für Antisemitismusforschung und die Kultur der Sinti und Roma entwickelt.

Über Sinti und Roma sind viele Vorurteile im Umlauf. Eines, das vermutlich besonders verletzt, lautet, Sinti und Roma seien krimineller als andere.

Das ist ein falsches Narrativ mit einem sehr ernsten Hintergrund. Diese Kriminalisierung der Menschen ist Teil des Soundtracks, der nach Auschwitz führte. Um das mal ganz deutlich zu sagen.

Ein anderes Vorurteil lautet: Sinti und Roma sind nicht sesshaft, sie reisen.

Also ich glaube, dass viele schockiert darüber wären, wenn sie wüssten, wie in jeder Hinsicht durchschnittlich das Leben vieler deutscher Sinti aussieht. Gleichzeitig sind sie aber bemüht, dass ihre Identität als Sinti nicht bekannt wird, weil sie mit Ablehnung rechnen. Wir wiederum sehen oft nur jene, die unseren Vorstellungen entsprechen. Die sind aber zumeist nicht aus Deutschland.

Sondern aus Rumänien oder Bulgarien.

Zum Beispiel. Es ist eine wahnsinnig vielfältige Community. Das Verbindende ist die Sprache. Ich finde es im Übrigen legitim, solche Fragen zu stellen. So kommen wir ins Gespräch. Und in meiner Arbeit geht es ja nicht nur darum, etwas gegen Antiziganismus zu tun. Sondern auch um die Förderung des Lebens der Sinti und Roma. Ich finde es auch nicht schlimm, etwas nicht zu wissen. Ich finde es schlimm, etwas nicht wissen zu wollen. Das ist Ignoranz.

Wie viele Sinti und Roma leben eigentlich in Deutschland?

Das ist eine spannende Frage. Ich glaube, dass Zahlen, Daten, Fakten uns helfen könnten, Sinti und Roma zielgerichteter zu fördern. Doch wir haben es mit einer Minderheit zu tun, die mit einer staatlichen Erfassung schlechte Erfahrung gemacht hat. Sie war die Vorstufe zu ihrer Ermordung. Alter, Geschlecht, Bildung, all diese Informationen sind wichtig, aber sensibel. Was jetzt geplant ist, ist eine Befragung durch die Community selbst. Es gab vor wenigen Jahre eine ähnliche Befragung von Deutschen mit afrikanischer Herkunft. Die ist gut gelaufen.

Wie hat sich der Anteil der Menschen, die antiziganistische Vorurteile haben, in den vergangenen Jahren entwickelt?

Ich kann Ihnen keine Tendenz nennen. Ich kann nur sagen, dass wir aus der Mitte-Studie erschreckend hohe Zahlen haben. Was den Rassismus gegen Roma anders macht als den Rassismus gegen andere Gruppen, ist seine Selbstverständlichkeit, seine Beiläufigkeit, seine allgemeine Akzeptanz. Es wird noch nicht einmal als solcher erkannt. Das ist anders als etwa bei den Juden, wo sich die Gesellschaft weiterentwickelt hat. Außerdem ist Antiziganismus als Phänomen in staatlichen Institutionen allgegenwärtig. Diese harte Diagnose muss man schon stellen. Die Berichte von Betroffenen sind in ihrer Masse eben mehr als anekdotisch.

Kürzlich meldete das für Migration zuständige Justizministerium in Stuttgart, dass sich viele Ungarn als Ukrainer ausgeben, um Bürgergeld zu bekommen. Was es nicht gemeldet hat: Es handelte sich wohl um Roma. Finden Sie es richtig, wenn dieser Hinweis unterbleibt?

Die Frage müsste meiner Ansicht nach eher lauten: Finde ich es richtig, dass es überhaupt so eine Meldung gibt? Ganz ehrlich, warum soll ein Mensch, der neben der ukrainischen Staatsbürgerschaft noch eine andere Staatsbürgerschaft hat, kein richtiger Ukrainer sein? Statt sich an diesen Menschen abzuarbeiten, sollte man sich vielleicht mal mit der ungarischen Regierung auseinandersetzen, die diese Pässe verteilt und dann die Roma vertreibt.

Nun sind sie bei uns und bekommen Bürgergeld, was nicht jedem gefällt.

Wir haben aus Bayern und Baden-Württemberg etwa 1000 Verdachtsfälle. Die werden der Reihe nach geprüft. Dabei wurden bisher 39 Doppelstaatsbürgerschaften festgestellt. In 300 Fällen ist man sich noch nicht ganz sicher.

Für Sie geht diese Diskussion also in die falsche Richtung.

Genau. Was ist denn eigentlich unser Gerede wert von der besonderen historischen Verantwortung, die wir angeblich tragen? Alle Roma, die aus Osteuropa zu uns kommen, sind doch Überlebende beziehungsweise Nachfahren von Überlebenden des deutschen Völkermords.

Michael Schwarz

Redakteur Politik und Verwaltung

0711 66601-599

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