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Interview: Berufsschule

Unter der Rückkehr zu G9 dürfen andere Schularten nicht leiden

Der Berufsschullehrerverband hadert mit der Rückkehr zu G9. Warum das so ist, was er nun befürchtet und von der Politik fordert, erörtert der Landesvorsitzende Thomas Speck im Gespräch mit Christoph Müller. Außerdem stellt er ein Konzept vor, mit dem die frühzeitige berufliche Orientierung von Jugendlichen gestärkt werden könnte.

Thomas Speck ist Landesvorsitzender des Berufsschullehrerverband. Er fordert von der Politik, dass die Rückkehr zu G9 nicht zu Lasten anderer Schulformen geht.

Achim Zweygarth)
Staatsanzeiger: Sie waren gegen eine Rückkehr zum neunjährigen allgemeinbildenden Gymnasium. An den Berufsgymnasien sei G9 ja schon flächendeckend möglich. Warum zieht dieses Argument bei Schülern und Eltern nicht ?

Thomas Speck: Die beruflichen Schulen mit ihren beruflichen Gymnasien sind einfach zu unbekannt. Wir haben nicht die Elternlobby, nicht die Elternunterstützung wie das allgemeinbildende Gymnasium oder vielleicht auch andere Schularten.

Woran liegt das?

Die Schülerinnen und Schüler, die zu uns kommen, sind ja schon älter. Und dann ist Elternarbeit vielleicht nicht mehr so intensiv und anders ausgerichtet. Irgendwann muss man auch seine Jugendlichen und erwachsenen Kinder loslassen können, das spielt eine entscheidende Rolle. Und wer gesellschaftlich das Abitur 60 Jahre lang in den Vordergrund stellt, bekommt dann auch eine Fokussierung auf diese Form. Da stehen wir jetzt leider gerade.

Wirtschaftsverbände weisen auch auf das G-9-Angebot der Berufsgymnasien hin. Warum hat das nicht geholfen?

Die Verbände haben sich nicht so deutlich positioniert, wie man das vielleicht im ersten Moment denken würde. Sie unterstützen die beruflichen Schulen sehr, aber in der Frage G8 oder G9 haben sie sich  ein Stück weit zurückgehalten.

Warum befürchten die Berufsgymnasien durch das neue G9, ins Hintertreffen zu geraten? Der Landeselternbeiratsvorsitzende etwa meint, früher seien auch massenweise Schüler nach der zehnten Klasse ins Berufsgymnasium gewechselt. Warum sollte das künftig nicht ebenso sein?

Wir haben größere Schwierigkeiten im Bildungssystem als die Frage G8 oder G9. Deswegen ist es so wichtig, dass wir eine breite Unterstützung für die Grundschulen und Kitas hinbekommen, was die Förderung des Spracherwerbs angeht. Und das sagen wir Berufsschullehrer, obwohl wir sozusagen ganz am Ende der Bildungsbiografie  stehen.

Warum betonen Sie das so?

Weil es allen Schularten zugute kommt, wenn mehr auf den Anfang geachtet wird. Das ist eine wichtige Baustelle, und wenn man diese angehen will, dann braucht man Ressourcen personeller Art, finanzieller Art, räumlicher Art. Und wenn es der Politik nicht gelingt, das ausgleichend zu den anderen Bildungsbaustellen durchzuführen, dann muss anderswo gekürzt werden – ich fürchte, dass es dann auch und gerade die beruflichen Schulen treffen könnte.

Ist Ihre Befürchtung eher, dass die Schülerzahlen massiv einbrechen oder dass Sie beim Verteilen der Ressourcen benachteiligt werden?

Beides. Nach wie vor stehen wir bei der Unterrichtsversorgung schlechter da als allgemeinbildende Gymnasien, haben weniger Lehrerwochenstunden. Wie soll das erst werden,  wenn jetzt auch G9 kommt? Ich kann nicht einsehen, warum unsere Schülerinnen und Schüler, die ohnehin meist eine schlechtere Ausgangslage haben,  weniger Unterstützung und Förderung verdient hätten als die am allgemeinbildenden Gymnasium.

Andere Bundesländer sind ja schon zu G9 zurückgekehrt sind. Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen?

In den anderen Bundesländern war eben ein höherer Stellenbedarf durch die Rückkehr zu G9 da. Große Sorge macht uns das Beispiel Schleswig-Holstein. Dort ist man zum Schuljahr 2019/2020 zum G9 zurückgekehrt. Damals hatte man 62 000 Auszubildende in der beruflichen Bildung. Im Schuljahr 2022/23 hatte man noch 44 000, also 18 000 Personen weniger. Dieser Rückgang von rund 30 Prozent ist nicht nur demografisch zu erklären, auch nicht durch die Corona-Delle. Da gibt es andere Effekte – und einer davon wird mit Sicherheit die Rückkehr zu  G9 gewesen sein .

Wie waren die Erfahrungen in Bayern, das vielleicht besser vergleichbar ist?

Bayern hat noch nicht so lange umgestellt. Die Kollegen dort sagen,  dass sie jetzt erleben, dass man Lehrkräfte von den Fachober- und Berufsoberschulen – die dort zum Abitur führen wie die Berufsgymnasien bei uns – abzieht, um sie im allgemeinbildenden Gymnasium einsetzen zu können. Insofern ist das auch ein warnendes Beispiel, wie die Politik agiert, wenn man eben nicht genügend Lehrkräfte findet für den Bedarf, den das G9 ja nach sich zieht.

Womit rechnen Sie bei uns?

Es gibt eine Zahl, die ich spannend finde. 20 Prozent der Lehrkräfte, die wir an beruflichen Schulen einstellen,  werden in allgemeinbildenden Gymnasien ausgebildet. Wenn diese künftig einen höheren Bedarf an Lehrkräften haben und mehr Deputate, um sie einzustellen, wie decken wir dann unserem Personalbedarf?

Sie fordern parallel zur Wiedereinführung von G9 eine Stärkung aller mittelbar davon betroffenen Schularten. Wie soll das aussehen?

Wir brauchen unbedingt eine Attraktivitätssteigerung gegenüber dem allgemeinbildenden Gymnasium, damit unabhängig von der Grundschulempfehlung Kinder und ihre Eltern finden, dass es auch andere spannende Schularten gibt. Wir schlagen in Klasse 7 und 8 in allen anderen Schularten erste Kooperationen mit beruflichen Schulen projektartig vor. Und in Klasse 9 und 10 dann ganz konkret ein bis zwei Schultage in der Woche an den beruflichen Schulen, zum Beispiel mit dem Fach lebensweltliche Kompetenzen.

Was erhoffen Sie sich davon?

Jugendliche sollen die Welt der Berufe komplett kennenlernen, auch das Handwerk, das sich stark verändert hat in den letzten Jahren und – Stichwort Klimaberufe –, viele Tätigkeiten eröffnet, die wir brauchen werden. Auch Erzieherinnen und Pflegefachkräfte werden mehr denn je benötigt. Es hilft jedem einzelnen und uns als Gesellschaft, wenn man eine bewusste Berufswahlentscheidung treffen kann.

Die Grundschule als Basis für alles ist verstärkt in den Fokus der Bildungspolitik gerückt. Wie stehen Sie zum Vorschlag eines Kompetenztests zusätzlich zu der Grundschulempfehlung und dem Elternwillen?

Da fehlt mir die Erfahrung, um die Wirkung einschätzen zu können. Was ich aber weiß, ist: Wir müssen es hinbekommen, dass nicht alle Schüler auf allgemeinbildende Gymnasien wollen. Wir sind da pragmatisch. Ob man das jetzt mit einer verbindlichen Grundschulempfehlung hinkriegt oder mit anderem, kann ich nicht beurteilen. Deswegen maße ich mir das auch nicht an.

Zur Person

Seit rund vier Jahren steht Thomas Speck an der Spitze des Berufsschullehrerverbands Baden-Württemberg (BLV). Der einzige Fachverband für das berufliche Schulwesen vertritt die Interessen von mehr als 10 500 Lehrkräften. Der 46-jährige Speck ist Lehrer an der Carl-Theodor-Schule in Schwetzingen und seit Mai 2022 auch stellvertretender Bundesvorsitzender. Der Experte für Dienstrecht Lehrereinstellung und regionale Schulentwicklung ist dreifacher Familienvater liebt Frankreich und frönt in seiner Freizeit den Hobbies Fußball und Singen.

22.04.2024 Thomas Speck; Vorsitzender Berufsschullehrerverband Baden-Württemberg e.V. stellvertretender Vorsitzender BvLB Bundesverband der Lehrkräfte für Berufsbildung e.V.
Christoph Müller

Redakteur Bildung & Wissenschaft

0711 66601-182

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