Interview: Günther Oettinger

„Wer nichts macht, macht nichts falsch – oder alles“

Kaum jemand überblickt Baden-Württembergs Entwicklung aus unterschiedlichen Perspektiven so lange wie er. Jetzt wird Günther Oettinger 70. Im Interview schaut er zurück, schaut aber auch kritisch auf gesellschaftliche Zustände heute: optimistisch, weil er „das Leben weitgehend schön findet“, wie er sagt.

Günther Oettinger feiert kommende Woche seinen 70. Geburtstag. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat dazu in die Villa Reizenstein geladen. Foto: Röttgers

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Staatsanzeiger: Herr Oettinger, wie fällt Ihre Bewertung der Wahlergebnisse vom Wochenende aus?

Günther Oettinger: Die CDU hat keinen Grund zu Übermut. Markus Söder hat sich behauptet, Boris Rhein ist sympathisch, er muss sich aber erst noch bewähren. Aber verloren hat die Ampel diese de- facto-midterms, weil die Wähler finden, dass es so nicht weitergehen kann.

Frage an den Politikberater: Wie könnte sich die Bundesregierung berappeln?

Wir haben einen Kanzler, der nicht kommuniziert und schnell schnippisch wird. Und Grüne, die zwar ihre Stammwähler halten, aber die, die sie auf dem Weg zur Volkspartei schon mal erreicht haben, jetzt wieder verloren haben. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Grünen nehmen sich zurück in ihrem Duktus, dann hat die Koalition eine Chance, bis 2025 zu regieren. Oder die FDP wird sich nicht mehr fügen, und dann ist die Regierung handlungsunfähig. Dann wird außer dem Recht auf Geschlechterwechsel und Cannabis-Freigabe nichts mehr gehen.

Da bleibt viel Spielraum für die Union.

Wenn sie geschlossen ist. Das muss die Lehre aus Bayern und Hessen sein, und zwar von Kiel bis Stuttgart, von Saarbrücken bis München, von Düsseldorf bis Dresden. Und sie muss sich als konstruktive Oppositionspartei anbieten.

Wie passt da die Asylbewerber-beim Zahnarzt-Geschichte des Bundesvorsitzenden ins Bild?

Das Beispiel war nicht geglückt, trotzdem hat Friedrich Merz den Finger in eine richtige Richtung gehoben. Es gelingt uns zu wenig, Menschen für den deutschen Arbeitsmarkt zu interessieren. Mit dem Bürgergeld und anderen Leistungen haben wir ein Niveau an Sozialprogrammen, das höher ist als in allen anderen europäischen Ländern. Deshalb sind nicht Italien, Zypern, Spanien oder Frankreich das Ziel der Migration, sondern Deutschland. Eine Annäherung unserer Geld- und Sachleistungen an das europäische Niveau unter Beachtung der hiesigen Lebenshaltungskosten ist dringend geboten.

Ist das ein Appell an das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe?

Ja. Das Urteil zur Höhe der Leistungen ist weltfremd und hat mit der jetzigen Lage nur noch eingeschränkt zu tun. Der Grund: Der Anreiz, bei uns zu arbeiten, ist zu gering. Wir haben aber ein Europa der Freizügigkeit und wir wollen dieses Europa. Deshalb müssen sich die Leistungen europäisch annähern statt sich elementar zu unterscheiden.

Sie waren Fraktionschef, als die Republikaner in den Landtag einzogen. Was ist von den damaligen Erfahrungen auf heute zu übertragen?

Wir müssen uns fragen, wo die Populisten von rechts ihre Attacken fahren. Antwort: Beim Thema Migration, das war seit Langem erkennbar und ist vergleichbar mit 1991 und 1992. Aktuell kommen sich verstärkende Wohlstandsverluste und Zukunftsängste hinzu, außerdem die Themen Energiepolitik und Europa, weil 2024 das EU-Parlament neu gewählt wird. Da ist für uns klar: CDU und CSU sind Europaparteien. Das gemeinsame Europa ist noch immer ausreichend populär, und diese Popularität müssen wir im Wahlkampf stärken. Die Energiewende allerdings halte ich in erheblichen Teilen für verkorkst. Es darf doch nicht wahr sein, dass wir über hohe Energiepreise klagen und Energie zugleich verknappen. Hier würde ich zu mehr Pragmatismus raten. Die Migrationspolitik gehört zu den zentralen Themen, bei denen sich Regierung und Union aufeinander zubewegen müssen. Und das werden sie auch tun.

Da erübrigt sich fast die Frage, ob Sie ein Optimist sind.

Ja. Ich bin einer, weil ich das Leben weitgehend schön finde. Außerdem macht das, was man tut, mehr Spaß, wenn man sich darauf freut. Und drittens kann man viele Probleme mit Optimismus besser lösen als mit Pessimismus. Das habe ich oft erfahren in meinem Leben.

Sie schwärmen heute noch von Ihrer Zeit in Gemeinderat und Kreistag. Was macht den Reiz der Kommunalpolitik aus?

Es gibt so viele Gemeinden mit einer tollen Kultur in der Sitzung und vor allem in der Nachsitzung. Man kann nirgendwo sonst so schnell Themen angehen und Pläne realisieren wie auf örtlicher Ebene: ein neues Zentrum, eine neue Halle, sogar ein Sportplatz für eine neue Sportart wie Rugby oder Beachvolleyball. Und für örtliche Entscheidungen gibt es in vielen Parteiprogrammen gerade keine To-do-Liste. Räte sind frei, es geht um Ortskenntnis, um Menschenverstand und darum, Prioritäten zu setzen. Ich bin unverändert begeistert von meinen 14 Jahren im Gemeinderat und 14 Jahren im Kreistag.

Sie waren damals ganz schön grün. Von der Forderung nach Tempo 30 und weniger Autofahrten bis zum Ruf nach einem Vetorecht für den Umweltminister.

Die CDU hatte Herbert Gruhl, den späteren Mitbegründer der Grünen, in unseren Reihen. Wir haben aber nicht auf ihn gehört. Wir hatten das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, aber Ökologie war bei uns lange nicht wirklich Thema. Ich durfte dann die Grüne Charta Baden-Württemberg mitentwickeln. Und als nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl das Umweltministerium eingerichtet wurde, habe ich genau gesehen, wie gering dessen Kompetenzen waren. Deshalb wollte ich in Kernfragen dem Umwelt- wie einem Finanzminister ein Vetorecht gegenüber den anderen Ressorts einräumen.

Wie es Robert Habeck in der Ampel auch nicht bekommen hat. Warum funktioniert das nicht?

Umweltpolitik braucht immer eine Balance zur Industrie- und Wirtschaftspolitik. Wir haben das damals im Blick behalten, der Ampel gelingt das heute nicht. Es macht doch wenig Sinn, wenn wir Stahl, Aluminium, Kupfer, Keramik, Glas, Papier, Zement und Kartonagen verteuern. Das alles wird weiter gebraucht, also wird es importiert, und dann sind wir auf dem Weg zur Deindustrialisierung. Klimaschutzpolitik kann kein Land allein machen. Deutschland ist für 1,8 Prozent aller Emissionen weltweit verantwortlich, die EU für 7,5 Prozent. Also wird das nur im globalen Kontext funktionieren.

Damit wäre der Traum ausgeträumt, dass Deutschland und Europa so erfolgreich, wie es eben geht, vorangehen, sodass viele andere Länder geradezu folgen müssen und den Planeten mit retten?

Im Naturschutz können Länder alleine handeln und Vorbild geben, vom sauberen Bodensee bis zur Vogelwelt im Schwarzwald. Da können Standards gesetzt werden, und das bekommt man auch hin mit seinen Nachbarn. Aber Klima ist global – wer da belehren will, läuft ganz schnell Gefahr, sich zu übernehmen.

Zum Beispiel?

Wir waren in Katar bei der Fußball-WM, der DFB-Präsident und die Innenministerin mit Regenbogen-Binde. Katar ist ein mildes Land im Vergleich zu Saudi-Arabien. Jetzt sind aber die Weichen mit Zustimmung des DFB-Präsidenten für die Fußball-WM 2034 in Saudi-Arabien gestellt. Das zeigt mir doch, dass wir zu wenig Einfluss haben. Und dass wir aber auch nicht bereit sind, Konsequenzen zu tragen. Denn natürlich wird Deutschland, wenn qualifiziert, teilnehmen. Also haben wir uns überhoben und lächerlich gemacht.

Was waren die größten Unterschiede im Leben des Fraktionschefs Günther Oettinger und danach in dem des Ministerpräsidenten?

Die Themen sind die gleichen, weil eine Regierungsfraktion ständig korrespondiert mit den Ministern und dem Regierungschef. Aber der Tagesablauf ist deutlich anstrengender und die Ansprüche sind gewaltig. Als ich jung war im Gemeinderat, waren wir froh, wenn ein Ministerialrat kam, um mit uns einen Sachverhalt zu diskutieren und das Land zu vertreten, ein leibhaftiger Ministerialrat. Heute wollen alle den Ministerpräsidenten sehen. Und deshalb wird der in Anfragen aufgefressen. Winfried Kretschmann hat mich in seiner Oppositionszeit mal angegriffen: Ich ginge ja auf jedes Heckeberlesfeschd. Und was macht er heute? Genau dasselbe. Es müsste einfach etwas mehr Respekt vor dem Terminkalender eines Regierungschefs oder eines Ministers geben.

Lothar Späth hat immerhin noch eifrig Tennis gespielt …

… und Kurt-Georg Kiesinger war schon am Donnerstagabend wieder daheim in Tübingen. Das waren aber andere Zeiten, ohne Präsenzpflicht in Berlin und Brüssel. Und außerdem war Späth meist mit Partnern beim Tennis, mit denen er auch Politik machte. Die Zeiten haben sich geändert, der Tag hat aber weiterhin nur 24 Stunden. Deshalb ist die Gefahr groß, dass zu wenig übrig bleibt, um nachzudenken, zu analysieren oder für Rückfragen in die Häuser, in denen so viele Fachleute mit Sachverstand sitzen.

Was sind Ihre größten Erfolge?

Das sollen andere sagen.

Ein paar Stichworte wenigstens.

Kinderland Baden-Württemberg, der erste Landeshaushalt ohne Schulden seit Jahrzehnten, die Schuldenbremse. Oder in Brüssel die Einigung mit Russen und Ukrainern in Sachen Gaslieferung nach der Landnahme der Krim. Besonders schwierig war aber die Durchsetzung der von mir erarbeiteten Rechtsstaatlichkeitsklausel im Europäischen Haushalt, die jetzt ein wirksames Instrument Polen und Ungarn gegenüber geworden ist .

Die größten Fehler?

Die Trauerrede auf Hans Filbinger war ein erheblicher Fehler. Generell aber gilt: Wer viel macht, macht Fehler. Wer nichts macht, macht nur scheinbar keine Fehler, aber in Wirklichkeit alles falsch.

Nagt das noch an Ihnen?

Im digitalen Zeitalter kann man jedenfalls nichts mehr vergessen, weil man immer eingeholt wird. Aber das ist nicht schlimm, das ist die Realität. Ich bin 1975 in die Junge Union eingetreten, 1984 in den Landtag gekommen und bis heute keine Privatperson im eigentlichen Sinne. Da muss man sich eben mit allem messen lassen, mit allen Stärken und Schwächen.

Das Gespräch führte Brigitte Johanna Henkel-Waidhofer

Brigitte Johanna Henkel-Waidhofer

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