Themen des Artikels
Um Themen abonnieren und Artikel speichern zu können, benötigen Sie ein Staatsanzeiger-Abonnement.Meine Account-Präferenzen
Jan Bürger: „Die Neckarromantik ist eine Folge der Industrialisierung“

Ein Stocherkahn in der Nähe des Hölderlinturms in Tübingen. Entlang des Neckars bildeten sich viele kreative Zentren um berühmte Schriftsteller.
IMAGO/Alexander Gonschior)Staatsanzeiger: Sie kommen eigentlich aus Hamburg. Was war der Anlass, um über den Neckar zu schreiben?
Jan Bürger: Wer aus dem Norden kommt, vermisst hier im Südwesten im Alltag vor allem das Wasser. Als Mitarbeiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach wollte ich zudem diese besondere literarische und kulturelle Verdichtung darstellen, die mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Region seit Mitte des 19. Jahrhunderts einhergeht.
Sie kennen die Region Stuttgart seit den 1990er-Jahren. Wie hat sich der Neckar verändert?
Damals bildete sich noch Schaum vor den Schleusen, der Neckar war noch erkennbar verschmutzt. Man nahm ihn eher wie einen Kanal wahr, nicht als Naturraum. Seither hat sich viel verändert – besonders deutlich etwa in Ludwigsburg bei den Zugwiesen: Noch vor zehn Jahren spielte das Neckarufer für die Stadt kaum eine Rolle, heute ist es ein beliebtes Naherholungsgebiet mit üppiger Vegetation und einer überraschend reichen Tierwelt. Das finde ich großartig.
Wie hat sich der Schleusenbau auf das Bild vom Neckar ausgewirkt?
Die zahlreichen Wehre und Schleusen haben den Fluss gezähmt. Er ist kein reißender Strom mehr wie einst. Bei Wilhelm Hauff erfährt man noch, wie Holz von der Nagold bis nach Holland geflößt wurde – eine gefährliche Arbeit. Auch Mark Twain beschreibt eindrucksvoll seine Fahrt mit den Flößern, als die Strömung noch eine Naturgewalt war. Als der Fluss beherrschbar wurde, begann auch eine gewisse Verklärung: So ist die zuweilen auch etwas kitschige „Neckarromantik“ im Grunde eine Nebenfolge der Industrialisierung.
Was kam mit der Schifffahrt?
Schiffbar bis Plochingen ist der Neckar erst seit 1968, zehn Jahre zuvor wurde Stuttgart eine Hafenstadt. Zwischen Mannheim und Heilbronn gab es hingegen schon jahrhundertelang eine intensive Schifffahrt. Flankiert von dem Neckarprivileg war sie die Grundlage für den Reichtum Heilbronns. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde dann eine enorme Umgestaltung der Flusslandschaft ins Werk gesetzt. Mittelständische Betriebe entstanden in der Nähe der Ufer und wuchsen teils zu Großunternehmen heran.
Warum gab es entlang des Neckars so viele bekannte Dichter und Denker?
Da kann man nur spekulieren: Die Region war lange wirtschaftlich schwach und immer wieder von Katastrophen bedroht. Viele wollten auswandern und gar nicht wenige haben es auch getan. Für die begabten Leute, die blieben, gab es unter anderem zwei Wege der Selbstbefreiung: technisches Tüfteln, Württemberg ist ein Land der Erfinder, und die Flucht in die Literatur, wie Schiller sie exemplarisch gelebt hat. Literatur ist eine bescheidene Kunst, für die man nur Ruhe, Papier und einen Stift braucht. Auch die Traditionsuniversitäten in Heidelberg und Tübingen spielten eine Rolle, in deren Nähe sich immer wieder kreative Zentren bildeten, etwa um Schelling, Hegel und Hölderlin im Tübinger Stift oder die um Uhland, Mörike und Nikolaus Lenau. Zwischen Rottweil und Mannheim entstand so eine Kulturlandschaft, die der einer Großstadt an Wirkung kaum nachsteht.
Tübingen, Heilbronn, Heidelberg. Entlang des Neckars wird nun an KI geforscht und getüftelt.
Die Autoindustrie prägte die Region einst ähnlich stark wie die Tech-Industrie das Silicon Valley. Heute, im Digitalzeitalter sucht man nach vergleichbaren Impulsen – allerdings in einer globalen Wirtschaft, in der regionale Zentren immer weniger Bedeutung haben. Der wirtschaftliche Aufstieg Baden-Württembergs ist nicht den geografischen Voraussetzungen zu verdanken, sondern vor allem dem Bildungsniveau. Ich glaube, wir sollten daraus lernen und etwas dagegen tun, dass Hochschulen an gesellschaftlichem Gewicht verlieren und die Schulbildung oft vernachlässigt wird. Auf die Gefahr hin, altmodisch zu klingen: Bildung bleibt unsere wichtigste Ressource. Heute hat sie allerdings einen enorm starken Gegner, den wir alle begeistert mit uns herumtragen: das Smartphone.
Zur Person
Jan Bürger ist 1968 in Hamburg geboren. Seit 2002 arbeitet der promovierte Literaturwissenschaftler am Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Dort leitet er das Siegfried Unseld Archiv und ist zugleich stellvertretender Leiter der Abteilung Archiv sowie verantwortlich für das literarische Veranstaltungsprogramm.
Bürgers Sachbuch „Der Neckar. Eine literarische Reise“ wurde 2024 als Taschenbuch aufgelegt und mit einem neuen, kurzen Kapitel versehen.