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Interview Ex-Landkreistagspräsident

Joachim Walter: „Ich habe aber die Parteipolitik in der kommunalen Arbeit immer hintangestellt“

Keiner war bislang länger Präsident des Landkreistages Baden-Württemberg als Joachim Walter. Im Staatsanzeiger-Interview zieht er ein Fazit seiner zwölfjährigen Amtszeit. Der scheidende Landrat von Tübingen erklärt außerdem, wo er gegenüber dem Ministerpräsidenten Kretschmann die Nase tatsächlich vorne hatte.
Mann mit Brille und Bart spricht gestikulierend, trägt Anzug und Krawatte.

Joachim Walter hat seine Ämter aufgegeben und geht nun in den Ruhestand. An mangelnder Leidenschaft für die kommunale Sache liegt das sicher nicht.

Achim Zweygarth)

Staatsanzeiger: Seit 22 Jahren sind Sie Landrat in Tübingen, zwölf Jahre waren Sie Präsident des Landkreistages. Das sind große Zeiträume. Wie hat sich die Kommunalpolitik seither verändert?

Joachim Walter: Vieles zielt heute auf die schnelle Schlagzeile ab. Tiefgehende Diskussionen sind sehr viel seltener geworden. Hinzu kommen äußere Faktoren. Seit ich 2003 Landrat wurde, hatten wir erst die Flüchtlingskrise mit dem Höhepunkt 2015/16. Dann kam Corona, dann die Ukrainekrise, und jetzt stecken wir in einer Finanzkrise. Das alles prägt die Kommunalpolitik.

Kommunale Vertreter klagen immer über zu wenig Geld, aber jetzt scheint es schlimmer zu sein als je zuvor.

Das ist so. Wir haben im vergangenen Jahr als Kommunen in Baden-Württemberg ein historisches Defizit von 3,1 Milliarden Euro gesehen. 90 Prozent der Landkreise schreiben aktuell rote Zahlen. Die Kreisumlage-Hebesätze steigen 2025 im dritten Jahr in Folge, insbesondere wegen des wachsenden Sozialetats, wieder um fast 2,7 Prozentpunkte. Der Schuldenstand steigt im Vergleich zum Vorjahr um 1,2 Milliarden auf sechs Milliarden Euro, der Zuschussbedarf für Soziales ist um 9,1 Prozent gestiegen. Wir befinden uns im freien Fall.

Zu Ihren Forderungen sagen Bund und Land: „Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen.“

Der „nackte Mann“ bürdet uns gerne viel Ballast auf. Wir haben gemeinsam mit anderen das Thema Deregulierung in die Landes- und Bundespolitik getragen. Die Ergebnisse sind mager, und die Leute sind oft rasend, weil sie sich durch Überregulierung in die Ecke gedrängt fühlen. Zwar kommt nun das Regelungsbefreiungsgesetz, das Normen nach einem umfangreichen Genehmigungsverfahren aussetzen kann. Wir sind gespannt, wie bürokratisch das wird. Der Normzweck muss weiterhin erreicht werden. Welche Erleichterung ermöglicht das? Die Österreicher haben das Aufsatteln von Standards per Gesetz, Stichwort Goldplating, verboten. Das haben wir auch in der Entlastungsallianz gefordert …

… die das auch als Absicht erklärt hat.

Dann aber kam das Mobilitätsgesetz und die Diskussion um das Gleichbehandlungsgesetz, die auf vorhandenes Recht aufsatteln. Das brauchen wir nicht. In der Entlastungsallianz gab es Fortschritte, aber nicht die großen Sprünge, die Bürger und Verwaltungen brauchen.

Glauben Sie, dass die Bevölkerung nach den Krisen-Umbrüchen Hurra ruft, wenn die Verwaltung reformiert wird? Wollen die Menschen überhaupt Veränderung?

Es geht weniger um die Organisation der Verwaltung, sondern um den Abbau der Überregulierung. Das Problem ist, dass wir überall, von Flensburg bis Freiburg, beim selben Sachverhalt exakt dieselbe Entscheidung wollen. Wir brauchen mehr Ermessensspielräume. Unsere jungen Mitarbeiter sind stark darauf geprägt, am Buchstaben des Gesetzes festzuhalten. Auch das hat die Überregulierung mitproduziert. Man kommt sehr schnell in den strafrechtlichen Bereich, wenn man beim Artenschutz oder Immissionsschutz etwas übersieht. Das schafft Übervorsicht.

Im März 2026 ist Landtagswahl. Bietet dieser Herbst ein Fenster für Forderungen, die später eingelöst werden?

Ich glaube nicht, dass bis März noch die großen Würfe entstehen. Aber ich hoffe, dass die neue Landesregierung nicht nur vom Brombeergestrüpp und der Heckenschere spricht, sondern sie auch ansetzt, unterstützt von Berlin. Wir brauchen das, etwa beim Bürgergeld, das ich vor zwei Jahren angesprochen habe. Heute diskutiert man es, obwohl es den Bundeshaushalt nicht rettet. Aber das Bürgergeld hat Außenwirkung. Menschen vergleichen: Eine vierköpfige Familie bekommt mit allen Leistungen 3300 bis 3500 Euro – das muss eine Familie ohne Sozialleistungen erst verdienen. Wenn sich nichts tut, werden die nächsten Wahlen verheerend.

Im Sitz des Landkreistags in Stuttgart hat der scheidende Präsident Joachim Walter (Mitte) mit den Staatsanzeiger-Redakteuren Peter Schwab (links) und Rafael Binkowski gesprochen.
Achim Zweygarth)

Wechseln wir das Thema: Sie haben einmal die Grünen mitbegründet, heute sind Sie CDU-Mitglied. Wie blicken Sie auf Ihre eigene Entwicklung zurück?

Ich habe mit sieben anderen Pfadfindern einen der ersten Grünen-Kreisverbände in Sigmaringen gegründet. Wir wollten etwas für die Umwelt tun. Damals war das kein Thema. Nach zwei Jahren bin ich aber ausgetreten, weil einiges verrutscht ist. Den ersten Wahlkampf des jetzigen Ministerpräsidenten im Kreis Sigmaringen habe ich aber mitgemacht. Ich war früher bei den Grünen als er.

Wie war der Weg, auszutreten und woanders einzutreten?

Während des Studiums in Freiburg habe ich mich umgeschaut, ohne mich zu binden. Als ich in die Landesverwaltung kam, habe ich den Landtagsabgeordneten Heinrich Haasis von der CDU erlebt, der als ehemaliger Landrat und Sparkassenpräsident die Wirkung von Gesetzen intensiv hinterfragt hat. Das hat mir imponiert. Als ich ihn wegen einer Mitgliedschaft ansprach, riet er mir, zuzuwarten, man werde sonst in eine Ecke gestellt. Bei meiner Bewerbung als Landrat habe ich meinen politischen Standpunkt dann deutlich gemacht, bin aber erst Jahre später in die CDU eingetreten. In Tübingen, wo Rot-Grün stark ist, war das kein Zeichen von Opportunismus. Ich habe aber die Parteipolitik in der kommunalen Arbeit immer hintangestellt. Den Ritterschlag bekam ich bei meiner ersten Wiederwahl: Die Grünen verzichteten auf einen Gegenkandidaten, weil sie sagten, jedes Argument werde von mir ernst genommen.

Welche Agenda hatten Sie, als Sie Präsident des Landkreistages wurden?

Keine. Die Kollegen in Oberschwaben haben mich zu ihrem Sprengelvorsitzenden gemacht, und so wurde ich fast automatisch Vizepräsident. Das habe ich gerne gemacht, vor allem mit dem damaligen Präsidenten und Landrat des Hohenlohekreises, Helmut Jahn. Als er 2013 überraschend aufhörte, wurde ich reihum zur Kandidatur aufgefordert. Nach kurzem Zögern habe ich es gemacht, und das seit zwölf Jahren – eine verdammt lange Zeit. Als Achim Brötel, der Landrat des Neckar-Odenwald-Kreises, Präsident des Deutschen Landkreistages wurde, habe ich meinen Rücktritt zu seinen Gunsten angeboten. Er wollte aber noch ein bisschen mehr Spielraum für Berlin, deshalb habe ich länger gemacht. Wir verstehen uns auch menschlich sehr gut, und ich freue mich, dass er zu meinem Nachfolger gewählt wurde.

Hat es Sie nie gereizt, eine Stufe höher zu gehen, etwa ins Ministerium?

Es gibt keine höhere Stufe als Landrat zu sein. Als Präsident des Landkreistages habe ich politische Spielräume. Der Ministerpräsident hat das auch bestätigt. Bei seiner ersten Wiederwahl im Landtag sagte er zu mir: „Es war ja nicht so einfach mit uns beiden.“ Ich habe gesagt: „Herr Ministerpräsident, das bleibt auch so.“

Was konnten Sie nicht durchsetzen?

Das Thema Entbürokratisierung. Dass wir da nicht weitergekommen sind, ist frustrierend. Ich sehe zaghafte Schritte, aber nicht die großen Würfe. Vielleicht hat das auch zu meiner Entscheidung beigetragen, aufzuhören – gesundheitliche Probleme zwingen mich ohnehin, aus der Sieben-Tage-Woche rauszukommen.

Und was war Ihr größter Erfolg?

Die Krisenbewältigung, gerade als Landkreistag. Bei Corona war unsere kleine Verwaltung mit damals kaum 30 Leuten diejenige, die die Landkreise koordiniert hat. Was hier geleistet wurde, war der helle Wahnsinn. Ich bin stolz, dass ich eine solche Verwaltung als Präsident begleiten durfte.

Was werden Sie im Ruhestand machen?

E in abrupter Ausstieg ist nicht gut. Ich werde in drei Stiftungen mitarbeiten. Der Esslinger Alt-Landrat Heinz Eininger und ich wollen ein deutsch-israelisches Jugendwerk voranbringen, bei dem auch arabischstämmige Israelis mitmachen. Meine Familie, besonders meine Frau, hat lange zurückgesteckt. Wir haben uns ein kleines Wohnmobil gekauft – als bekennende Camper wollen wir das genießen.

Das Interview führten Rafael Binkowski und Peter Schwab

Einen Bericht über die Verabschiedung Walters und der Wahl des neuen Landkreistagspräsidenten lesen Sie hier. 

Zur Person

Zum 1. Oktober, zwei Tage nach seinem 65. Geburtstag, gibt Joachim Walter nach 22 Jahren sein Amt als Landrat in Tübingen ab. Schon seit diesen Montag amtiert er nicht mehr als Landkreistagspräsident, der Jurist geht in den Ruhestand. Nach dem Studium in Freiburg hat Walter zunächst als Anwalt, dann als Amtsleiter im Landratsamt Zollernalbkreis gearbeitet, wo er 1996 erster Landesbeamter wurde. Zwischendurch hatte er noch eine Station beim Freiburger Regierungspräsidium. Sechs Jahre später wählte ihn der Kreistag zum Tübinger Landrat. Im Ehrenamt war Walter auch auf Bundesebene aktiv und seit 2014 Vizepräsident des Deutschen Landkreistags.

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