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Direkte Demokratie 

Was hat die Reform der Bürgerentscheide gebracht?

Im Herbst 2005 und 2015 wurden zwei große Reformen zu Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden beschlossen. Seitdem hat sich die Zahl der Abstimmungen pro Jahr verdoppelt. Das Land nimmt die "zugespitzten Debatten" in den Kommunen wahr und will die dialogische Bürgerbeteiligung stärken. 
Schild mit Protesttext gegen Neubau, zwei Traktoren im Hintergrund.

Bauernprotest zum Bürgerentscheid gegen den geplanten Stadtteil Dietenbach in Freiburg im Jahr 2019.

dpa/Patrick Seeger)

Stuttgart. Die Zahl der Bürgerentscheide ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich gestiegen. Zwischen 1999 und 2005 gab es im Schnitt acht Bürgerentscheide pro Jahr, von 2006 bis 2015 waren es 14, seit 2016 rund 23 .

Mehr Themen, längere Fristen, weniger Hürden

Hauptgründe für diesen Anstieg sind die Reformen der Jahre 2005 und 2015. Beide Landesregierungen – damals CDU/FDP und später Grün-Rot – senkten die Hürden für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide. Das Unterschriftenquorum für Bürgerbegehren, also wie viel Prozent der Stimmberechtigten ein Begehren unterstützen müssen, wurde 2015 geringfügig auf einheitlich 7 Prozent gesenkt.

Das Zustimmungsquorum, also der Anteil der Stimmberechtigten, der für ein gültiges Ergebnis nötig ist, wurde 2015 von 25 auf 20 Prozent reduziert. Dadurch scheiterten weniger Abstimmungen: Zwischen 2006 und 2015 noch 19 Prozent, seit 2016 nur noch acht. „Mit Ausnahme von Gemeinden über 15.000 Einwohnern stellt das Quorum heute kein maßgebliches Problem bei Bürgerentscheiden mehr dar“, erklärt Edgar Wunder von Mehr Demokratie.

Die Reform von 2005 weitete die Themen aus, über die Bürger abstimmen dürfen. Auch das führte zu einem Anstieg der Fälle: Laut Mehr Demokratie wären über ein Drittel der ab 2006 durchgeführten Bürgerentscheide zuvor nicht möglich gewesen.

Als weiteren Faktor für den Anstieg nennt Wunder die verlängerte Einreichungsfrist für Bürgerbegehren, die ebenfalls 2015 beschlossen wurde. Auch die verstärkte Beratung durch Mehr Demokratie habe dazu beigetragen, dass Bürgerbegehren häufiger erfolgreich eingereicht wurden.

Zankapfel waren Bürgerentscheide zur Bauleitplanung

Kontrovers diskutiert wurde die Reform von 2015, die Bürgerentscheide über einleitende Verfahrensbeschlüsse zur Bauleitplanung wieder zuließ. Allerdings hatte es sich dabei laut Wunder nur um eine Klarstellung gehandelt. Zwischen 2009 und 2015 waren Aufstellungsbeschlüsse zu Bebauungsplänen von Bürgerentscheiden vorübergehend ausgeschlossen.

Ursache war ein von der damaligen CDU/FDP-Regierung nicht erwartetes Gerichtsurteil aufgrund einer unklaren Formulierung, erläutert Wunder.

Diese Klarstellung von 2015 führte zu mehr Abstimmungen. Ein Viertel der 220 Bürgerentscheide der vergangenen neun Jahre betraf einleitende Verfahrensbeschlüsse zur Bauleitplanung. In 23 Fällen wurden diese wieder aufgehoben. Zu etwa einem Drittel handelte es sich dabei um kleine Flächen und Planänderungen innerhalb schon bebauter Gebiete. In 15 Fällen betraf es geplante neue Gewerbe- oder Wohngebiete.

Unmut über die gekippten Ratsentscheidungen kochte in den vergangenen Jahren immer wieder hoch, etwa 2021, als mehrere Projekte in der Region Stuttgart abgelehnt wurden.

Kommunalverbände sehen Bürgerentscheide teils kritisch

Städtetag und Gemeindetag lehnen Bürgerentscheide über Bauleitplanungen weiterhin ab, teilen sie auf Anfrage mit: „Direkte Demokratie darf nicht dazu führen, dass wichtige Entwicklungen verhindert werden, die für die Stadt oder die Stadtgesellschaft notwendig sind“, betont Ralf Broß, das geschäftsführende Vorstandsmitglied. Grundsätzlich wertet er direkte Demokratie positiv.

Fragen zur Infrastruktur ließen sich nicht auf ein einfaches Ja oder Nein reduzieren, so der Gemeindetag. Zwar bestehe abstrakt Zustimmung zu Projekten wie erneuerbaren Energien oder Wohnungsbau, vor Ort gebe es jedoch oft Widerstand. Bürgerentscheide verzögerten oder verhinderten Vorhaben und führten selten zu Akzeptanz. Die Reform 2015 habe sich nicht bewährt, da sie „Not-in-my-backyard“-Haltungen begünstige.

Barbara Bosch, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung und frühere Reutlinger Oberbürgermeisterin, verteidigt die Neuregelungen: Sie haben die direkte Demokratie praxistauglicher gemacht und gleichzeitig Planungssicherheit geschaffen. „Grundsätzlich konnten die Ziele der Reform 2015 erreicht werden“, sagt Bosch.

Megathema bei Bürgerentscheiden und Bürgerbegehren ist derzeit die Windkraft. Acht von 15 Bürgerentscheiden gab es 2025 dazu bereits. Hintergrund ist die Ausweisung neuer Vorranggebiete durch die Regionalverbände. Allerdings wären ausnahmslos alle Windkraft-Bürgerbegehren auch unter den vor 2015 geltenden Regeln zulässig gewesen, betont Wunder.

Bosch: Rat soll Gegenvorschlag zu Bürgerbegehren machen

Bosch räumt ein, dass Bürgerentscheide häufig zu zugespitzten und emotionalen Debatten führen. Das verhindert, dass ein Thema sachlich in der Tiefe ausgelotet wird“. Die Koalition will deshalb direkte Demokratie mit dialogischer Bürgerbeteiligung stärker verzahnen.

Ein konkreter Vorschlag liegt auf dem Tisch: Der Gemeinderat soll einen Gegenvorschlag zu einem Bürgerbegehren machen können. Das würde das starre Verfahren von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden dialogorientierter gestalten.

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