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Artikel aus der Verwaltungshochschulen

„Engagiert und attackiert“: Anfeindungen und Gewalt gegen Bürgermeister nehmen zu

Angriffe gegen Rathauschefs sind keine Seltenheit mehr: Erik Lierenfeld ist Bürgermeister der Stadt Dormagen und erhält regelmäßig Drohungen per Post oder per E-Mail. Weitere Erfahrungsberichte und wo Bürgermeister Hilfe finden können.
Professor Paul Witt vor der Kamera

Professor Paul Witt bei den Dreharbeiten der ZDF-Dokumentation "Engagiert und attackiert".

HS Kehl)

KEHL. „Leg dein Amt nieder und verpiss dich!“ – solche Beleidigungen in den sozialen Netzwerken gehören heute zum Berufsalltag vieler Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Dabei werden sowohl Mitarbeitende in Rathäusern als auch die Vertreter der Kommunalpolitik immer häufiger angegriffen – mit Worten und mit Taten.

Die Dokumentation „Engagiert und attackiert“ des ZDF, die im Oktober 2022 ausgestrahlt wurde, beleuchtet dieses Phänomen genauer und spricht mit Betroffenen und Experten. Erik Lierenfeld ist Bürgermeister der Stadt Dormagen und erhält regelmäßig Drohungen per Post oder per E-Mail. Zeitweise wurden das Rathaus und sein Eigenheim von der Polizei bewacht. Anfeindungen gegen ihn nehmen eine Gestalt an, die laut Lierenfelds Aussage vielleicht im Dritten Reich normal gewesen seien, in einer modernen Demokratie jedoch eine deutliche Verrohung der Sitten zeigen.

Fehlendes Verständnis der Bürger über die Rolle des Bürgermeisters

In Deutschland sind knapp 11.500 Bürgermeister im Amt, rund 8.000 davon sind ehrenamtlich tätig. Circa 57 Prozent der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden schon einmal beleidigt oder angegriffen. Gerade in Krisenzeiten häufen sich die Anfeindungen gegen sie, beispielsweise während der Flüchtlingskrise, der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges. Dabei handelt es sich überwiegend um Hasskommentare in sozialen Netzwerken, Schmierereien im Rathaus oder Eigenheim oder das Aufschlitzen von Autoreifen. Oftmals werden die Mandatsträger für etwas verantwortlich gemacht, auf das sie überhaupt keinen Einfluss haben, zum Beispiel wenn Entscheidungen zentral von der Bundesregierung getroffen werden und die Landes- und Kommunalverwaltungen sie umsetzen müssen. Bei vielen Bürgern fehlt das Verständnis für die Rolle und die tatsächliche Macht des Bürgermeisters als Leiter der Verwaltung.

Hassbotschaften wegen Migrationshintergrund

Belit Onay wurde 2019 zum Oberbürgermeister der Stadt Hannover gewählt. Er berichtet, vor allem wegen seines Migrationshintergrunds vielfach Hassbotschaften zu erhalten und im Netz beschimpft zu werden. In solchen Situationen hilft ihm der Rückhalt seines Teams und seiner Familie.

Professor Paul Witt, ehemaliger Rektor der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl, der sich seit Jahren mit Bürgermeisterforschung beschäftigt, beobachtet einen massiven Anstieg von Beleidigungen oder Drohungen gegen Mandatsträger in den letzten zehn Jahren. Er betont auch, dass die Bürger immer kritischer gegen die örtliche Verwaltung eingestellt sind und ihre Meinung immer schneller und heftiger gegenüber der Verwaltung äußern.

Angriffe um 60 Prozent gestiegen

Laut Angaben des Bundeskriminalamtes sind die Angriffe auf Bürgermeister im vergangenen Jahr um rund 60 Prozent gestiegen und beliefen sich auf knapp 2.500 Angriffe.

Aber nicht nur die Bürgermeister werden Opfer solcher Attacken, auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung werden immer öfter zu Zielscheiben. In Dormagen drohte ein Bürger, sich im Rathaus anzuzünden, die städtischen Mitarbeiter werden auf der Straße körperlich angegriffen und angespuckt. Bürgermeister Erik Lierenfeld fährt eine strenge Null-Toleranz-Politik gegen ein solches Verhalten. Seine Gemeinde bringt alle Formen von derartigem Verhalten zur Anzeige. Dabei wächst die Zahl der angezeigten Taten stetig. Bei Lierenfelds Mitarbeitern hingegen hat sich mittlerweile eine gewisse Toleranz entwickelt – immerhin werden sie nach eigener Aussage „nur“ verbal und nicht körperlich bedroht. Viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister äußern sich nicht öffentlich zu erfahrenen Angriffen – aus Angst, als Opfer abgestempelt zu werden.

Organisationen bieten Hilfe an

Hilfe finden Betroffene unter anderem in dem von Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier ins Leben gerufenen Portal „Stark im Amt“, das als Kooperationsprojekt der Körber-Stiftung, des Deutschen Städtetages, des Deutschen Landkreistages und des Deutschen Städte- und Gemeindebundes Präventions- und Beratungsangebote für Mandatsträger anbietet. Daneben gibt es auch gemeinnützige Organisationen wie Hate Aid, die Opfern von digitaler Gewalt kostenlose Beratung und Prozesskostenfinanzierung anbieten.

Hilfe von staatlicher Seite sucht man dagegen noch vergeblich. Zwar stehen auf Hass- und Beleidigungsdelikte seit der Einführung des Gesetzes zur Bekämpfung von Hassdelikten und Rechtsextremismus im Jahr 2021 je nach Schwere der Tat mehrjährige Freiheitsstrafen. Es war auch angedacht, soziale Medien zu verpflichten, Hasskommentare und Ähnliches über eine zentrale Schnittstelle dem Bundeskriminalamt zu melden. Allerdings wurde diese Vorschrift nach einer Klage verschiedener Plattformen gekippt, da sie laut Aussage des Gerichts gegen europarechtliche Normen verstößt. Bis heute wurde das Gesetz diesbezüglich nicht korrigiert.

19 Prozent der Bürgermeister erwägen einen Rücktritt

Dabei ist dringend Handlungsbedarf geboten: 19 Prozent der Bürgermeister machen sich Sorgen um ihre eigene Sicherheit und die ihrer Familie und erwägen einen Rücktritt. Dieser „stille Abschied“ ist nach Aussage von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die größte Gefahr für die Demokratie. Unsere Demokratie lebt von Menschen, die sich für demokratische, gesellschaftliche Werte einsetzen und diese in die nächste Generation tragen.

Und trotz aller Widrigkeiten wollen Bürgermeister wie Erik Lierenfeld und Belit Onay auch weiterhin ihren Job machen – um in ihren Kommunen etwas zu bewirken und für ihre Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Sie finden Erfüllung in ihrem Amt und möchten sich von Widrigkeiten auch nicht von dessen Ausübung abhalten lassen. Paul Witt von der Hochschule Kehl ist ebenso der Meinung, dass der Beruf des Bürgermeisters entgegen aller Unannehmlichkeiten der interessanteste, spannendste und vielseitigste Beruf ist, den die Verwaltung zu bieten hat.

Quelle/Autor: Laura Fontana, Tiana Gottstein, Conrad Pahnke, Katharina Peuser, Yannick Steil

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