Themen des Artikels
Um Themen abonnieren und Artikel speichern zu können, benötigen Sie ein Staatsanzeiger-Abonnement.Meine Account-Präferenzen
Boris Palmer fordert Berlin zum Sparen auf

Boris Palmer bei den Herrenberger Gesprächen mit dem Staatsanzeiger
Achim Zweygarth)Herrenberg. Bis zum letzten Platz gefüllt ist die Alte Turnhalle in Herrenberg, ein ehrwürdiger Fachwerkbau aus dem Jahr 1886. Gut 280 Zuschauer sind gekommen. Der Tübinger OB Boris Palmer ist natürlich mit dem Rad angereist, hat aber die Ammertalbahn benutzt. Man merkt dem 53-jährigen Ex-Grünen an, dass er nicht mehr jede Provokation erwidert.
Als ein linker Jugendlicher aus dem Publikum ihm „Hetze gegen Ausländer“ vorwirft, wird er kurz emotional, fängt sich dann aber wieder. Schließlich hatte er nach dem Eklat in Frankfurt und dem Austritt bei den Grünen selbst eine „Denkpause“ verordnet. Doch Palmer ist weiterhin präsent in Talkshows wie „Markus Lanz“ und fällt immer wieder mit neuen Initiativen auf, zuletzt einem Buch über Bürokratieabbau, mit der Ärztin Lisa Federle.
Herrenbergs OB Nico Reith: Die Kreisumlage raubt uns alle Spielräume
Nun also Herrenberger Gespräche, zum fünften Mal, die Reihe von Staatsanzeiger, der Diakonie und den Kirchen. Moderiert haben wieder Carsten Beneke von der Diakonie und Chefredakteur Rafael Binkowski. Das Format wird jetzt auch von der Stadt unterstützt, der OB Nico Reith diskutiert mit. Und findet klare Worte zur kommunalen Finanznot. Zwar lobt er die Einigung mit dem Land, sagt aber: „Dann kam am Montag aber die Kreisumlage.“ Die steigt drastisch an, und kostet die Stadt 10 Millionen Euro mehr als geplant, zerschießt mithin die Haushaltsplanung.
Für Boris Palmer ein Symptom. In Tübingen hat er die höchste Grundsteuer, nimmt damit 26 Millionen Euro ein, muss jetzt aber 40 Millionen Euro mehr an den Landkreis zahlen. „Wir sind in einem hypertrophen System, es kommt der Punkt, an dem es knallen kann“, sagt der frühere Landtagsabgeordnete. Der Bund müsse sparen, etwa bei der Mütterrente, dem Bürgergeld, auch bei der Flüchtlingsunterbringung.
Lesen Sie hier: Was bleibt nach Palmers Debatte mit der AfD?
Palmer will Einschnitte, Breymaier will Milliardäre besteuern
Diese These stößt auf heftigen Widerspruch von Leni Breymaier. Die Ex-Verdi- und Ex-SPD-Landeschefin nimmt auch im Ruhestand mit 65 Jahren kein Blatt vor den Mund, so wie man sie kennt: „Mich regt das auf, dass jetzt wieder gegen einzelne Gruppen Stimmung gemacht wird. Die Rentner, die Bürgergeldempfänger, die Flüchtlinge.“ Das löse aus ihrer Sicht kein Problem. Stattdessen müsse man sich doch auch mal überlegen, wie man mehr Geld ins System bringe: „Wieso schauen wir immer nur nach unten und nicht nach oben? Warum nicht auf die Milliardäre, die keinen Cent Steuern zahlen?“
Da ist Stimmung in der Halle, Palmer und Breymaier liefern sich gerne verbale Scharmützel, können sich aber auch lachend die Hand geben. Sie kennen sich seit Jahrzehnten, und schätzen den Disput.
Wie kann man zivilisiert streiten?
Überhaupt, darum geht es bei den Herrenberger Gesprächen: wie kann man zivilisiert miteinander streiten? Frank Brettschneider, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Hohenheim, hat in seinem „Demokratiemonitor“ die Einstellungen der Bürger im Südwesten zur Demokratie untersucht. „Die Lage ist besser als im restlichen Land, aber nicht gut“, so seine Analyse.
Er stimmt Boris Palmer in weiten Teilen zu, die vielen Stimmen für die AfD seien ein Symptom für die Unzufriedenheit vieler Menschen mit den demokratischen Institutionen. Für die kirchliche Seite berichte Simone Schächterle, die Geschäftsführerin des Diakonieverbands im Kreis Böblingen, dass auch in der Kirche eine Streitkultur gefordert sei: „Wir müssen einander zuhören und müssen nicht immer recht haben.“
Bericht über das Buch von Boris Palmer und Lisa Federle
Brettschneider: Die Lage der Kommunen ist wirklich ernst
Immer wieder geht es aber auch die dramatische Finanzkrise der Städte und Gemeinden. Die Moderatoren Carsten Beneke und Rafael Binkowski verweisen darauf, dass die Kommunalvertreter immer mehr Geld fordern: „Ist es jetzt das richtige oder das falsche Jammern?“ Doch auch der Politikwissenschaftler Frank Brettschneider sagt: „Die Lage ist wirklich ernst. Und das ist ein Problem für das Funktionieren der Demokratie.“ Boris Palmer fordert, wie andere Kommunalpolitiker auch, eine grundsätzliche Aufgabenkritik im Bund.
Und kommt dann doch auf die Flüchtlinge zurück: „Jugendliche wählen AfD, weil sie in ihrem Alltag Kriminalität und Gewalt von Gangs erleben, die eine andere Hautfarbe haben.“ Das zu benennen sei kein Rassismus, die Tabuisierung mache die AfD erst stark. Leni Breymaier widerspricht: „Und es gibt auch einen dunkelhäutigen Abgeordneten, der von der Polizei immer als erster kontrolliert wird.“ Da ist sie wieder, die Kontroverse der beiden.
Versöhnliche Botschaften zum Schluss
Am Ende wird es aber dann noch versöhnlich, nicht nur weil Interims-Dekan Thomas Kornelius darauf verweist, dass das Christentum dafür stehe, den anderen zu verstehen. Alle Diskutanten sollen dann noch in einem Satz sagen, was ihnen Hoffnung macht, und alle loben die „engagierte Diskussionskultur“ im Saal. Zumindest hier in Herrenberg ist man intensiv miteinander im Gespräch, über die Lager hinweg. Und so vergessen die beiden OBs Palmer und Reith wenigstens für eine kurze Zeit ihre Finanznöte. (sta)