Themen des Artikels

Um Themen abonnieren und Artikel speichern zu können, benötigen Sie ein Staatsanzeiger-Abonnement.Meine Account-Präferenzen

Interview: OB Thomas Keck

„Der Kittel Landkreis passt uns schon lange nicht mehr“

Die Familie von Thomas Keck (SPD) ist seit dem Mittelalter in Reutlingen ansässig. Der Oberbürgermeister freut sich über den Erfolg der Werbekampagne, kämpft für die Auskreisung der Stadt. Und will 2027 wieder antreten.

Thomas Keck ist seit 2019 Oberbürgermeister der 117 000-Einwohner-Stadt Reutlingen.

Achim Zweygarth)

Staatsanzeiger:

Herr Keck, „Reutlingen kann man nicht mögen – nur lieben“. Was hat diese Kampagne verändert?

Thomas Keck:

Die Kampagne hat tatsächlich ein eine spürbare Aufbruchsstimmung in unserer Stadt ausgelöst. Wir Schwaben neigen ja dazu, unsere Städte in Sack und Asche zu reden. Genau da wollten wir ansetzen. Die Reaktion war überwältigend – Medienresonanz bis nach Schweden, neue Wahrnehmung auch bei jungen Menschen , die sich wegen dieser Kampagne bei uns bewerben.

Hatten Sie zunächst Bedenken?

Oh ja. Ich hatte Bauchschmerzen, ob das in unserer eher pietistisch geprägten Stadt verfängt. Und als dann Breuninger die Filiale am Marktplatz geschlossen hat, dachte ich: Jetzt kracht alles zusammen. Aber wir haben’s durchgezogen. Und siehe da: Es hat funktioniert – und wurde ausgezeichnet mit dem Staatsanzeiger-Award (lacht) .Es ist alles aufgegangen. Es ist nicht selbstverständlich, dass man als Oberbürgermeister einer Stadt dieser Größe einem Blitzlichtgewitter und einem Medienecho mit einem Meer von Mikrofonen gegenübersteht.

Wie geht es weiter mit dem Stadtmarketing nach der Kampagne?

Wir arbeiten an einer umfassenden Stadtmarke, ähnlich dem Wiener Modell, wo eine Dachmarke mit allen Bereichen der Stadt kommuniziert. Wir denken langfristig – sieben, acht Jahre mindestens – und auch humorvoll. Denn Humor hilft. Übrigens auch mir persönlich.

Sie sind gebürtiger Reutlinger, ist es eine besondere Ehre, hier OB zu sein?

Meine Familie ist seit mindestens 600 Jahren hier ansässig. Einer meiner Vorfahren war 1449 der Stadtwerkmeister. Wissen Sie, welche Aufgabe er hatte?

Nein, sagen Sie es uns?

Er war für die Instandhaltung der Stadtmauer und der Türme verantwortlich.

In der Tradition sehen Sie sich?

Durchaus. Mehr Reutlingen geht nicht. (schmunzelt)

War es aus dieser Tradition heraus schon immer Ihr Ziel, OB zu werden?

Nein, überhaupt nicht. Mein Vater war Amtsleiter, mein Großvater Bürgermeister, ich hatte andere Pläne. Ich bin 1984 wegen Persönlichkeiten wie Erhard Eppler und der Idee von Nachhaltigkeit in die SPD eingetreten. Mit Schmerzen bin ich geblieben. Genauso geht es mir übrigens auch mit dem VfB Stuttgart, da sind auch immer wieder viele Schmerzen.

Warum soll Reutlingen Stadtkreis werden? Das ist Ihnen ja ein Anliegen …

Weil uns der derzeitige Status der Großen Kreisstadt an allen Ecken und Enden das Leben erschwert. Wir haben über 117 000 Einwohner, die größte Stadt im Land ohne Stadtkreisstatus. Wir brauchen andere Zugänge, speziell bei Verwaltung, Planung, Finanzen. Es geht nicht um Titel, sondern um adäquate Strukturen.

Der Landtag hat den Antrag abgelehnt, eine Klagemöglichkeit vor dem Verfassungsgerichtshof wurde verwehrt.

Richtig. Der Landtag will, dass wir mit dem Landkreis sprechen. Das haben wir getan, sogar mit externer Moderation. Heraus kamen ein paar kleinere Aufgabenübertragungen – viel zu wenig. Ich sage dazu: Der Berg kreißte und gebar eine Maus.

Geht es auch ums Geld?

Natürlich. Uns entgehen jährlich fünf bis zehn Millionen Euro Finanzausgleichsmittel. Das Innenministerium hat übrigens selbst die kleinen angedachten Übertragungen verworfen. Wir bleiben so auf vielen Ausgaben sitzen, zahlen beispielsweise zweimal für die Rettungsleitstelle. Der Kittel Landkreis passt uns schon lange nicht mehr. Es ist schmerzlich und einfach nicht mehr adäquat, über den selben Kamm geschoren zu werden wie Mehrstetten, die kleinste selbstständige Gemeinde im Landkreis Reutlingen mit knapp 1500 Einwohnern, die ich übrigens sehr schätze.

Der Landrat Ulrich Fiedler fürchtet, dass der Restkreis mehr Kosten tragen muss.

Wir haben das durchgerechnet, die Gesamtbilanz wäre für uns beide positiv. Unsere Untersuchung hat ergeben, dass der Restkreis mehr als überlebensfähig wäre. Er wäre auch nicht zu klein, denn es gäbe selbst nach einem Herauslösen der Stadt Reutlingen aus dem Landkreis noch fünf Landkreise in Baden-Württemberg, die kleiner wären.

Sehen Sie noch Hoffnung?

Nur, wenn sich im Landtag die Meinung der Mehrheit ändert. Aber der Druck wird wachsen – Städte wie Esslingen, Ludwigsburg oder Tübingen kratzen an der 100 000-Einwohner-Marke. Das Land muss reagieren.

Teilen Sie die Kritik des Städtetagspräsidenten Frank Mentrup am Land?

Absolut. Die Kommunalfinanzen sind in Schieflage. Hohe Tarifabschlüsse, Rezession, Investitionsstau. Das Land hat uns in der Pandemie mit starren Regeln allein gelassen. Auch die Förderpraxis ist unzureichend: Es gibt „vergiftete“ Förderungen – wir bekommen als Stadt nur Geld, wenn wir selbst welches mitbringen. Wer das nicht kann, geht leer aus.

Wie viel vom 500-Milliarden-Sondervermögen des Bundes kommt bei Ihnen an?

Wir wissen es nicht. Ich glaube nur noch, was ich sehe. Und bisher sehe ich: wenig. Die „klebrigen Finger“ der Länder bleiben ein Problem.

Wie geht es Reutlingens Innenstadt?

Besser als man denkt. Das Modehaus Zinser erweitert beispielsweise gerade in der Reutlinger Innenstadt. Die Leerstände sind unter dem Landesschnitt, aber konzentriert auf wenige Lagen. Der Onlinehandel hat sich durch Corona festgesetzt. Viel Kaufkraft wandert nach Metzingen ins Outlet-Center. Dort bekommt man Markenartikel 25 Prozent günstiger – das ist für uns schwierig.

Was passiert mit der jetzt leer stehenden Breuninger-Immobilie?

Sie gehört weiter Breuninger, das Unternehmen soll ja wohl insgesamt zum Verkauf stehen. Ich höre von moralischer Verantwortung gegenüber dem Standort – sehe aber wenig konkretes Engagement. Der Trend bei Breuninger geht zu Großprojekten in Hamburg oder Düsseldorf. Kleine Standorte haben da keine Zukunft.

Warum ist die finanzielle Lage in Reutlingen so kompliziert?

Wir haben seit Jahrzehnten eine strukturelle Schieflage bei der Gewerbesteuer. Textil- und Maschinenbau sind vollständig und teilweise weggebrochen. Bosch ist ein wichtiger Faktor, das reicht aber nicht. Es gibt soziale Träger, die für die Stadtgesellschaft wichtig sind, aber keine Gewerbesteuer zahlen. Gleichzeitig stellen wir Leistungen für die Region zur Verfügung, wie die Philharmonie, das Theater und andere Kulturangebote.

Gibt es neue Industrieansiedlung?

Ein großer Coup war die Cellforce, eine Tochtergesellschaft von Porsche mit 300 Hightech-Arbeitsplätzen. Auch das ehemalige Gelände der Spedition Willi Betz wollen wir hochwertig entwickeln. Aber: Die Zeiten sind unsicher, viele Investoren zögern.

Wie ist Ihr Verhältnis zum Gemeinderat? Wollen Sie 2027 wieder antreten?

Gut. Ich komme ja selbst aus dem Rat, war jahrzehntelang selbst Gemeinderat. Was die nächste OB-Wahl 2027 betrifft: Ich bin gesund, der Spaß am Amt überwiegt – also wird man 2027 wieder mit mir rechnen müssen!

Warum sollte man Reutlingen lieben?

Weil es eine Stadt mit Charakter ist. Nicht immer auf den ersten Blick, aber auf den zweiten. Reutlingen liegt traumhaft unterhalb des Albtraufs, bietet urbanes Leben und Natur. Es gibt starke Stadtteile mit dörflichen Strukturen, aber auch das großstädtisch geprägte Herz der Stadt. Diese Gegensätze verleihen unserer Stadt ihren Reiz. Reutlingen ist nicht nur lebenswert – es ist auch liebenswert!

Das Gespräch führte Rafael Binkowski

Thomas Keck mit Chefredakteur Rafael Binkowski auf dem Balkon, den der erste Nachkriegs-OB Oskar Kalbfell im neuen Rathaus hat einbauen lassen.

Nutzen Sie die Vorteile unseres

Premium-Abos. Lesen Sie alle Artikel aus Print und Online für

0 € 4 Wochen / danach 199 € jährlich Nachrichten aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung in Baden-Württemberg Jetzt abonnieren

Lesen Sie auch