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Interview: Herrenberger OB Thomas Sprißler

„Ich lasse viel zu, falle mal hin, und stehe wieder auf“

In 16 Jahren hat der Herrenberger Oberbürgermeister Thomas Sprißler die Stadt bekannt gemacht für Bürgerbeteiligung. Und er hat die Verwaltung nach Projekten strukturiert. Das wird landesweit beachtet, doch der 58-Jährige will nun beruflich neu durchstarten.

Thomas Sprißler war 16 Jahre lang OB von Herrenberg.

Achim Zweygarth)
Staatsanzeiger: Herr Sprißler , als Sie vor 16 Jahren ins Amt kamen, haben Sie für die damalige Zeit sehr ungewöhnliche Bürgerbeteiligungsmodelle gestartet…

Thomas Sprißler: Ich halte Bürgerbeteiligung für essenziell. Schon als junger Bürgermeister in Mötzingen (Kreis Böblingen) habe ich diese Erfahrung gemach, das war Mitte der 90er-Jahre. Als ich 2007 in Herrenberg als OB kandidiert habe, war mir klar: Wenn wir Identifikation schaffen wollen, funktioniert das nur über die Einbindung der Bürgerschaft.

Welche Prozesse waren dabei besonders wichtig im Rückblick?

Wir haben erstmals ein Leitbild entwickelt, dazu wurden flächendeckend alle Haushalte befragt, die Vereine, Kirchen, alle Gruppierungen. Und dieses Leitbild haben die Bürger selbst erstellt, das hat uns stark gemacht. Und wir haben Herrenberg zur Mitmach-Stadt gemacht.

Was verstehen Sie darunter?

Es ist uns gelungen, über 200 Projekte zu initiieren. Viele kleine Ideen, aber auch ganz große Pläne, wie der Jerg-Ratgeb-Skulpturenpfad, oder der Streuobst-Erlebnispfad. Von den Bürgern für die Bürger, die sich für ihre Anliegen einsetzen und sich nach der Projektumsetzung im Anschluss auch darum kümmern.

Nachdem die Stadtpolitik zuvor nicht immer besonders basisdemokratisch geführt wurde, ein Kulturschock?

Das kann und will ich nicht beurteilen. Jedenfalls ist aus meiner Sicht dieses neue Miteinander auf extrem fruchtbaren Boden gefallen, die Herrenberger haben geradezu darauf gewartet, selbst mitgestalten zu können. Wir haben einen „Bürgertopf“ geschaffen, der niederschwellig Geld für eine gute Idee zur Verfügung stellt.

Wie viel Geld ist für solche Bürgerideen im Haushalt der Stadt eingestellt?

Zu Beginn waren das 250 000 Euro für die großen Projekte. Aktuell sind es 50 000 Euro aufgrund der angespannten Haushaltssituation. Es gilt aber auch das Prinzip: Maximal die Hälfte aller finanziellen Mittel kommt aus dem Bürgertopf, alles andere sind Drittmittel oder Eigenleistungen.

Junge Menschen interessieren sich nicht für Politik, heißt es immer. Wie ist es Ihnen gelungen, sie dennoch für die Kommunalpolitik zu gewinnen?

Für mich war klar, dass wir die junge Generation stärker einbinden wollen. Ich habe den Jugendlichen gesagt: Ihr habt mich an eurer Seite. Ob ein Jugendgemeinderat das richtige Format ist, da war ich mir nicht sicher. Gemeinsam haben wir Überlegungen angestellt und daraus ist eine Plattform für Online-Beteiligung entstanden. Dazu ein jährliches Jugendforum mit bis zu 200 Jugendlichen während der Schulzeit. Daraus formierte sich eine sogenannte Jugenddelegation. Das sind Verantwortliche, die Ideen ohne formelle Wahlen und Sitzungsabläufe in die Verwaltung oder den Gemeinderat tragen.

Welche Projekte sind aus diesen Diskussionen entstanden?

Eine große Spielanlage in der Nähe des Freibades, ein Dirtpark für Mountainbikes, eine Chill-Ecke in einem ehemaligen Schiffscontainer mit WLAN und Handy-Ladestation. Beeindruckt hat mich die Downhill-Strecke im Schönbuch. Den Jugendlichen war diese Idee besonders wichtig, da sie zu Beginn hier bei mir im Rathaus saßen und ihr Anliegen vorgetragen haben.

Und dann?

Sie mussten ganze Arbeit leisten. Ein Pfad für Mountainbikes im Schutzgebiet des Schönbuchs? Die Jugendlichen sind zum Forstdirektor gegangen, haben über drei Jahre lang nicht den Mut verloren und die Planungen durch alle Instanzen durchgestanden. Diese Ausdauer für ein Ziel, das wir flankierend unterstützt haben, das halte ich für ein grandioses Beispiel.

Ist es Ihnen tatsächlich gelungen, die Verwaltung zu einem echten Dienstleister und Problemlöser umzubauen?

Wir haben von Beginn an Hierarchieebenen abgebaut und ein Projektmanagement eingeführt, bei dem nicht nur Führungskräfte Verantwortung tragen. Und wir haben unsere Verwaltungskultur hinterfragt: Was benötigt es, um gut und effektiv zusammen zu arbeiten, über die Ämtergrenzen hinweg? Und wie können wir anders kommunizieren? Das ist in der öffentlichen Verwaltung ein Kraftakt.

Wie sah das konkret aus?

Der Schlüssel war nicht, die Prozessabläufe zu optimieren. Das haben wir natürlich auch getan. Aber entscheidend war die Veränderung der Kultur. Wir waren zum Beispiel arbeitsfähig, da wir digital und mobil gut ausgestattet sind. Außerdem waren wir alle gewohnt, dezentral zu arbeiten.

Wie wurden Hierarchien abgebaut?

Streng genommen gibt es in jeder Organisation Zeichnungs- und Entscheidungsbefugnisse. Die Projektleitung liegt nicht bei den Amts- oder Abteilungsleitern, sondern bei einem interessierten Mitarbeiter, der vielleicht in der dritten oder vierten Hierarchieebene steht. Er hat die Verantwortung und darf entscheiden, welche Ressourcen er benötigt. Da wird es interessant für alle, die in der Hierarchie über ihm stehen.

Das klingt nicht nur für Herrenberg revolutionär, sondern für die gesamte Verwaltung im Land …

In der Wirtschaft ist Projektarbeit gang und gäbe. In der Verwaltung ist das sicherlich noch nicht der Normalfall. Das Arbeiten im Team ist aber entscheidend für die Motivation, weil jeder gemäß seiner eigenen Interessen am besten eingesetzt wird.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Mir fällt das Projekt „New Work“ im Bauhof ein. Dort hat früher ein Meister die Mitarbeiter im Bauhof angeleitet. Wir haben mit der Hochschule für Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg diese Gruppe in die Selbstorganisation überführt. Sie hat jetzt keinen Meister mehr, sondern jeder übernimmt abwechselnd vier Wochen lang die Verantwortung.

OB von Herrenberg Thomas Sprißler, Interview mit Rafael Binkowski Foto: Achim Zweygarth
Und das funktioniert tatsächlich?

Ich habe nach einem halben Jahr die Mitarbeitenden des Bauhofs im Ausschuss des Gemeinderates sich präsentieren lassen. Sie können sich nicht vorstellen, wie stolz sie auf ihre Arbeit waren. Sie haben erzählt, wie sie sich Gedanken darüber machen, ob bestimmte Abläufe sinnvoll sind. Und: Sie erledigen deutlich mehr Aufträge als vorher. Flache Hierarchien, Entwicklung zulassen, und einen Vertrauensvorschuss gewähren.

Ging das immer gut?

Natürlich ist wie überall nicht alles Gold was glänzt. Mein Credo ist: Ich lasse viel zu, falle lieber mal hin, und stehe dann wieder auf. „Machen“ steht auf einem großen Schild in meinem Büro. Das Prinzip habe ich versucht, in die Köpfe und Herzen meiner Mitarbeitenden einzupflanzen.

Herrenberg ist aufgeblüht, wie viel davon ist Ihr Anteil?

Das sollen die Menschen beurteilen. Mir war wichtig, dass die Bürger Verantwortung übernehmen. Auch für einen lebendigeren Marktplatz gab es nicht nur Befürworter. Wir haben mit dem Seeländer-Areal einen neuen Anker geschaffen, die Stadtmauer wurde freigestellt und beleuchtet, um die Innenstadt in Szene zu setzen. Es gibt die „Sommerfarben“ als Kulturfestival, einen Sommerstrand oder Events wie den 100-Kilometer-Altstadtlauf.

Und bei der Stadtentwicklung selbst?

Wir haben steuernd eingegriffen, Gebäude und Flächen selbst gekauft. Die Verfügbarkeit von Grundstücken ist meiner Ansicht nach das A und O. Wir haben alle interessanten Flächen im städtischen Eigentum, und haben etwa in der Tübinger Straße beim Marktplatz einzelne Gebäude aufgekauft, um die Nutzung zu steuern.

Ich stamme selbst aus Herrenberg, Jugendliche haben sich immer ein McDonalds und ein Kino gewünscht. Immerhin der McDonalds ist jetzt da …

Ja (lacht) , später kam das Freibad als Wunsch dazu. Das gibt es jetzt. Beim Kino haben wir verschiedene Anläufe gemacht, aber angesichts der nahen Konkurrenz ist ein Multiplex mit fünf Sälen nicht möglich. Es gibt aber ein großes Sommernachtskino auf dem Schlossberg und ein kommunales Kino. Wir sollten stets im Blick haben, dass Herrenberg für alle Altersgruppen ein Freizeitangebot bietet, und wir haben einen tollen Standort, umgeben von schönen Landschaften wie dem nahen Schwarzwald und dem Schönbuch und eine perfekte Anbindung nach Stuttgart. Herrenberg ist einfach klasse.

Das Gespräch führte Rafael Binkowski

Für den Chefredakteur ein ganz besonderes Interview

Für Rafael Binkowski war dies ein persönliches Interview, weil es in seiner Heimatstadt stattfand. Dort ist er aufgewachsen, ehe er 1999 zum Studium nach Stuttgart zog. In Herrenberg hat er sich als Jugendlicher selbst in der Kommunalpolitik engagiert und für den Gemeinderat kandidiert, bevor er sich entschied, Journalist zu werden. Damals war noch Volker Gantner Oberbürgermeister und der Gemeinderat stark parteipolitisch polarisiert. Über Thomas Sprißler hat Binkowski schon für die Lokalzeitung „Gäubote“ geschrieben, als dieser noch in den 90er-Jahren Bürgermeister im benachbarten Mötzingen war. Beim Gäubote hat Binkowski als freier Mitarbeiter bei Chefredakteur Harald Marquard viel journalistisches Handwerkszeug gelernt, das ihn bis heute prägt.

Zur Person: Thomas Sprißler

Thomas Sprißler, Jahrgang 1966, stammt aus Inneringen bei Sigmaringen, schloss an der Hochschule Ludwigsburg als Diplom-Verwaltungswirt ab. In der Gemeinde Mötzingen im Landkreis Böblingen war er zunächst Kämmerer. 1994 wurde der parteilose Sprißler dort zum Bürgermeister gewählt. 2007 folgte er Volker Gantner (Freie Wähler) in Herrenberg nach. Nun will er seine Erfahrungen weitergeben, und steigt in die Beratungsfirma seiner Partnerin ein. Als Nachfolger wurde Sprißlers persönlicher Referent, Nico Reith (32), im Oktober mit großer Mehrheit zum Herrenberger OB gewählt.

Rafael Binkowski

Chefredakteur des Staatsanzeigers

0711 66601 - 293

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