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Interview mit OB Boris Palmer: „Kein kultureller Rabatt für harte Jungs“

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer ist im Oktober deutlich wieder gewählt worden. Nun will er seine Stadt bis 2030 klimaneutral machen, weiterhin hohe Parkgebühren für SUV erheben und die Stadtbeleuchtung nachts abschalten. Der 50-Jährige will auch wieder vollwertiges Grünen-Mitglied werden. Doch in Sachen Migrationspolitik hat sich seine Haltung nicht geändert.

Ein klimaneutrales Tübingen - das ist das Ziel von Boris Palmer.

dpa/ Pressebildagentur ULMER | ULMER)

Staatsanzeiger: Herr Palmer, wie fühlen Sie sich, nachdem Sie Ihre zweite Amtsperiode angetreten haben? Nach einem harten Wahlkampf gegen ihre eigen Partei?

Boris Palmer: Das ist schon wieder Geschichte, der Alltag ist zurück. Es fühlt sich also nicht besonders an, sondern ist vorbei. Der wesentliche Unterschied ist die Perspektive. Ich habe vergangenes Jahr keine neuen Projekte begonnen, jetzt kann man sich wieder Gedanken über langfristige Perspektiven machen.

Gibt es eine Annäherung an Ihre Partei, noch ruht Ihre Mitgliedschaft. Wie wichtig ist es Ihnen, wieder aktives Mitglied zu sein?

Ich würde mich darüber freuen. Aber es besteht auch keine besondere Eile. Die Uhr läuft von selbst ab, die Ruhezeit meiner Mitgliedschaft ist befristet auf den 31. Dezember. Es gab ein erstes Gespräch mit dem Landesvorstand, es soll demnächst noch ein zweites geben.

Wahlerfolg gegen die eigene Partei

Nach Streit um Ordnungspolitik und Integration war ein rassistisch empfundener Social-Media-Post der Tropfen, der das Fass überlaufen ließ: Ende 2021 beantragte der Grünen-Landesvorstand Palmers Parteiausschluss. Vor dem Schiedsgericht einigte man sich darauf, dass die Mitgliedschaft bis Ende 2023 ruhen solle.

Unterdessen kandidierte Palmer zum dritten Mal in Tübingen als OB und erreichte im Oktober 2022 auf Anhieb die absolute Mehrheit – gegen Kandidatinnen der SPD und der Grünen.

Fühlen Sie sich noch als Grüner? Ist Ihnen das wichtig?

Für mich stehen die Grünen für Umweltschutz und Ökologie, deswegen fühle ich mich auch als Grüner.

Es gibt aber auch noch andere Wurzeln der Partei, Frieden, Bürgerrechte, Migrationspolitik … …

Gehen wir es durch: Bei den Bürgerrechten muss ich mir nichts vorhalten lassen, das habe ich in den Genen. In Tübingen gibt es vorbildliche Beteiligungsmöglichkeiten, das ist sogar wissenschaftlich bestätigt. Die Friedenspolitik war immer umstritten. Durch die Zeitenwende bewilligen Grüne mehr Geld als je zuvor für Militärausgaben …

Wie stehen Sie dazu?

Ich sehe keine andere Möglichkeit angesichts des russischen Angriffs. Aber vor drei Jahren hätte man für die Forderung nach 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr möglicherweise ein Parteiausschlussverfahren kassiert.

Wie sieht es bei Fragen der Migrationspolitik aus? Da vertreten Sie doch völlig andere Ansichten. Sind Sie mit der Partei im Reinen?

Migration zu den Gründungsthemen der Grünen zu zählen, fällt mir schwer, da fehlen mir die Belege, welche Rolle das Thema 1980 gespielt hätte. Aber solange dazu Debatten geführt werden können, bin ich mit der Partei im Reinen. Es stimmt, ich halte nichts von einer Politik, die eine Rhetorik offener Grenzen propagiert. Zumal das mit der praktischen Politik nicht übereinstimmt. Baden-Württemberg schiebt ausreisepflichtige Flüchtlinge ab und die Ampel hat im Koalitionsvertrag sogar eine Rückführungsoffensive vereinbart. Das hat mit der Rhetorik nichts zu tun, die bei uns teilweise gepflegt wird. Darüber zu streiten, finde ich richtig.

Täuscht der Eindruck, dass Sie sich zur Flüchtlingspolitik derzeit deutlich weniger äußern?

Das gilt meinem Eindruck nach auch für Zeitungen und Fernsehen, das Thema steht derzeit nicht oben auf der Agenda. Der Ukrainekrieg, die Energiekrise und der Klimaschutz sind nach oben gerückt. Die Migrationsfrage liegt im Hintergrund, weil die Zugänge aus den Herkunftsstaaten, die im Jahr 2015 eine Rolle gespielt haben, heute drastisch niedriger sind.

Wie bewerten Sie die Silvesterkrawalle in Berlin und anderswo, welche Schlüsse ziehen Sie?

Der Vergleich mit früheren, ähnlich gelagerten Ereignissen, wie der Stuttgarter Krawallnacht oder auf der Kölner Domplatte, zeigt: Es gibt zwei wesentliche Merkmale. Junge Männer und Migrationshintergrund oder Asylstatus. Das zu tabuisieren oder zu übertünchen, oder zu behaupten, das sei nur ein Problem unserer Gesellschaft, nicht auf die Probleme von Migranten hinzuweisen – das halte ich nicht für einen Beitrag zur Lösung.

Was ist Ihr Lösungsansatz?

Berlin ist ein besonderes Pflaster, wir hatten keine vergleichbaren Vorfälle in Baden-Württemberg. Entscheidend ist, dass man der maskulinen, patriarchalen Gewaltkultur so entschieden entgegen tritt, als wären es Remstäler Jungs. Da darf es keinen Rabatt geben, nur weil sie vielleicht eine schwere Kindheit hatten, in Problemvierteln leben oder einen anderen Glauben haben. Und genau das passiert.

Glauben sie wirklich, Muslime würden anders behandelt?

Da gibt es einen Rabatt, weil man sich nicht traut, dieser Gruppe konsequent gegenüber zu treten. Zum Beispiel werden Kontrolleure im Nahverkehr sofort mit Rassismusvorwürfen überzogen, wenn die Delinquenten dunkelhäutig sind. Das wissen die genau und nutzen es aus. Sie schreien „Rassismus“ und lachen dem Polizisten ins Gesicht. Das erzählen mir Polizisten aus dem Land. Daher: Keinen kulturellen Rabatt für harte Jungs.

Wie wichtig ist für Sie die Kommunikation mit den Bürgern?

Als Oberbürgermeister stehe ich natürlich direkt an der Schnittstelle. Verwaltungshandeln muss permanent erklärt werden. Wenn wir etwa die Öffnungszeiten der Kitas reduzieren, besteht der Hauptaufwand daran, das den Eltern zu erklären.

Wo war der Fehler in der Kommunikation beim Tübinger Stadtbahnprojekt, das in einem Bürgerentscheid abgelehnt wurde?

Der Hauptfehler der Debatte war, sie laufen zu lassen. Im Gemeinderat gab es eine Dreiviertel-Mehrheit für die Stadtbahn, doch man hat die Debatte dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Da haben unwahre Tatsachenbehauptungen und verzerrte Darstellungen am Ende dominiert. Wenn in der Stadt zum Beispiel Plakate hängen „Die Stadtbahn ist ein Klimakiller“, dann ist etwas schief gegangen in der Kommunikation.

Wollen Sie in Sachen Stadtbahn einen neuen Anlauf machen?

Wir haben vom Allensbacher Institut für Demoskopie eine Befragung erstellen lassen. Diese hat ergeben, dass die Mehrheit der Tübinger nicht generell gegen die Stadtbahn ist, aber sie möchten den Altstadtbezirk davon freihalten. Darauf muss man jetzt reagieren, wir benötigen eine andere Trassenführung.

Wie wollen Sie Tübingen schon bis 2030 klimaneutral machen?

Das Klimaschutzprogramm hat der Gemeinderat bereits beschlossen. Jetzt sind wir in der Mühsal der Ebene angelangt. Wie lange dauern Lieferzeiten für Transformatoren oder Genehmigungen für einen Solarpark? Wie bekommen wir Firmen, die Fernwärmeleitungen legen können? Wir arbeiten mit Hochdruck daran. Beim Strom werden wir dieses Jahr 75 Prozent Selbstversorgung mit erneuerbaren Energien erzielen. Bis 2030 erreichen wir das Ziel von 100 Prozent. Da wir aber auch Wärme und Mobilität über Strom abbilden wollen, müssen wir 150 Prozent erreichen. Und das hängt von den Genehmigungsverfahren ab.

Wie könnte man die Verfahren beschleunigen, etwa für Windräder?

Zwei Vorschläge: Das Verbandsklagerecht bei Windrädern kann man streichen, das wird nicht von Umweltschutzverbänden genutzt, sondern von Verhinderungsinitiativen aus anderen Bundesländern. Für offenkundig geeignete Flächen, etwa für Solaranlagen an Autobahnauffahrten, würde ich auf alle Prüfverfahren verzichten. Und ähnlich wie beim LNG-Flüssiggasterminal per Landesgesetz festlegen, dass dort gebaut werden darf.

War es richtig, eine kommunale Verpackungssteuer einzuführen?

Es muss etwas kosten, Einweg zu bestellen, sonst ändert sich nichts. Das haben wir in Tübingen gesehen. Nur einen Mehrwegbecher hinzustellen, der nicht angenommen wird, das bringt nichts. Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet im Mai über unsere Revision.

Sie haben eine Parkgebühr für SUV beschlossen. Bestraft diese Sonderabgabe nicht Menschen, die keine Garage haben?

Die Begrifflichkeit des Strafens finde ich unpassend. Man könnte nach dieser Logik auch fragen: Wieso werden Menschen belohnt, die auf Kosten der Allgemeinheit parken? Es geht um das Verursacherprinzip. Wer auf öffentlichen Flächen parkt, soll auch deren Kosten tragen.

Sie wollen eine Grundsteuer C auf leer stehende Flächen erheben, rechnen Sie mit Widerständen?

Das Grundstück benötigt ebenfalls die kommunale Infrastruktur, die für sie geschaffen wurde. Der Widerstand gegen die Pflicht, Steuern zu zahlen, ist uns zwar allen zu eigen, er ist aber völlig sinnlos.

Gab es Proteste gegen die Reduzierung der Straßenbeleuchtung?

Die gab es von Anfang an sehr wenig. Wer ist schon nachts um 3 Uhr unterwegs und benötigt Licht, weil er nicht im Auto sitzt. Ich habe dem Regierungspräsidium erläutert, warum ich es für falsch halte, wegen der Zebrastreifen die ganze Stadt zu beleuchten. Es geht um kommunale Selbstverwaltung. Jetzt liegt eine Weisung vor, das Energiesparen zu beenden. Dann machen wir das Licht eben wieder an.

Erwägen Sie dann eine Klage?

Der Streitwert ist zu gering. Über die Straßenbeleuchtung fange ich keinen Rechtsstreit an.

Rafael Binkowski

Chefredakteur des Staatsanzeigers

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