Themen des Artikels
Um Themen abonnieren und Artikel speichern zu können, benötigen Sie ein Staatsanzeiger-Abonnement.Meine Account-Präferenzen
Das Grauen muss eine Sprache finden

Das Bild zeigt eine Szene der historischen Uraufführung von „Die Ermittlung“ am 23. Oktober 1965 am Staatstheater Stuttgart.
dpa/Aßmann)Stuttgart. „Wenn ich geschichtliche Themen aufgreife“, so der Künstler, Schriftsteller und Dramatiker Peter Weiss (1916 – 1982) in einem Gespräch in Zusammenhang mit „Die Ermittlung“, von seinem Biografen Werner Schmidt zitiert, „dann interessiert mich vor allem daran die Bezogenheit zur Gegenwart.“ Das „Oratorium mit elf Gesängen“ thematisiert den Auschwitz-Prozess , der 1963/1964 in Frankfurt stattfand. Eine Zeit, in der man in Deutschland die Vergangenheit lieber vergessen wollte. Eine Zeit, in der ernsthafte Versuche unternommen wurden, eine Verjährungsfrist für NS-Verbrechen durchzusetzen.
Peter Weiss, selber jüdischer Herkunft, saß im Publikum beim Prozess. Für sein Stück nutzte er dann zumeist die Protokolle des Journalisten Bernd Naumann, aber auch weitere Quellen. Weiss wollte verstehen. Er wandte sich gegen das Verdrängungsbedürfnis und forderte eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Faschismus, so Schmidt.
Die Form, die er für das Grauen fand, war nüchtern, fast sachlich
Die Frage, die Weiss ebenso umtrieb war, wie und ob er überhaupt das Erlebte, das Grauen der Vernichtungslager , realistisch auf eine Bühne bringen könne. Die Form, die er schließlich fand, war nüchtern, fast sachlich, ohne Bühnenbild, lässt Täter wie Opfer, Angeklagte wie Zeugen, als Alltagsmenschen auftreten, als Menschen wie du und ich.
„Die Ermittlung“ wurde 1965 gleichzeitig an 15 west- und ostdeutschen Theatern sowie von der Royal Shakespeare Company in London uraufgeführt, wenig später folgte die Inszenierung von Peter Palitzsch in Stuttgart. Danach gab es zahlreiche Debatten, nicht allein zum Inhalt, sondern auch zur Person von Weiss, der als Kommunist abgestempelt wurde, da er den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus herausstellte.
60 Jahre später nun greift Burkhard Kosminski, Schauspielintendant am Staatstheater Stuttgart, das Stück wieder auf und inszeniert es neu, komprimiert auf 5 Gesänge mit 17 Schauspielerinnen und Schauspielern, um mehr Publikum zu erreichen und den Text für möglichst viele Menschen zugänglich zu machen. Denn im Original mit elf „Gesängen“ würde es mehr als vier Stunden dauern. Palitzsch ließ 1965 in seiner Produktion die Schauspieler und Schauspielerinnen ihre Rollen ständig wechseln, zwischen Täter und Opfer, und vermittelte so, dass jeder beides sein könne. Auch Kosminski lässt einen Teil seiner Schauspielerinnen und Schauspieler beide Rollen besetzen, als Zeugen und als Angeklagte.
„Bei der Auswahl der Gesänge haben wir uns für einen dramaturgischen Aufbau entschieden“, sagt Kosminski. Die zwei ersten Gesänge führten in die Thematik und in die Geschichte des Lagers ein. Der dritte beleuchte beispielhaft Einzelschicksale., der vierte unter anderem den trotz allem ja auch möglichen Widerstand gegen das Regime. Und der letzte „Gesang von den Feueröfen“ thematisiere den konkreten Ablauf der Vernichtung – „ein Aspekt, den wir trotz der Kürzung als notwendig empfanden“, so Kosminski. „Man hätte aber auch eine andere Auswahl treffen oder eine andere Reihenfolge wählen können.“ Jeder Gesang für sich stelle ein einzigartiges Zeugnis dar.
Schauspiel sucht noch weitere Aufführungsorte
„Leider ist das Stück wieder hochaktuell“, befindet der Schauspielintendant. „Wir halten es für unerlässlich, gerade in dieser Zeit, die Erinnerung an diese unvorstellbare, grausame Vernichtungsmaschinerie, in Gang gehalten von ‚normalen‘ Menschen, wachzuhalten. Auch ganz besonders für jüngere Generationen.“ Ihm sei bewusst, dass es einige Gruppierungen nicht gern sähen, dass dieser „dunkle Teil unserer Geschichte immer wieder in den Fokus gerückt wird.“ Gruppierungen, die diese historisch verbürgten Ereignisse sogar verleugneten. „Das schreckt uns aber nicht ab, sondern ist uns Ansporn“, betont er. „Wir sehen das Theater als einen Ort der Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Konflikten und Missständen.“
Nicht das Vergangene werde in „Die Ermittlung“ geschildert, „sondern eine Gegenwart, in der das Vergangene wieder lebendig wird und weiterlebt“, schreibt Biograf Schmidt. „Das Stück handelt also nicht vom Holocaust an sich und vom Vernichtungslager Auschwitz.“ Tatsächlich handelt es von den Menschen und davon, wozu sie fähig sind – und ist damit so aktuell wie je. Kosminski und sein Ensemble wollen das Stück deshalb zu den Menschen bringen und suchen weitere Aufführungsorte. Interessierte können sich beim Schauspiel Stuttgart melden.