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Bis die Polizei da ist, müssen Pfleger mit Bedrohungslagen klarkommen

Der Eingang zur Zentralen Notaufnahme am Klinikum Friedrichshafen: Hier spielte sich das bedrohliche Szenario ab, das zu einem Großeinsatz der Polizei führte.
Katy Cuko)Friedrichshafen. Die Nachricht verbreitet sich an jenem Freitag gegen Mittag über die sozialen Medien in Windeseile. Großeinsatz der Polizei am Klinikum Friedrichshafen. Beamte auch in Spezialausrüstung seien vor Ort. Gesucht werde ein 41-Jähriger, der Personal bedroht haben soll. Zeugen wollen ein Messer gesehen haben. Die Polizei bestätigt, dass mehrere Streifenwagen die Umgebung nach dem Mann absuchen.
Weil recht schnell klar war, dass die Person nicht mehr im Klinikgebäude ist, sei nichts abgeriegelt worden, teilt die Polizei wenig später mit. Da hatte sie den mutmaßlichen Täter gut anderthalb Kilometer entfernt bereits gefasst. Aufgrund seines Gemütszustands sei der Mann in eine Fachklinik gebracht worden.
Polizei und Leitstelle stufen die Lage als „lebensbedrohlich“ ein
Tage später, als sich die Aufregung wieder gelegt hatte, berichtet Susann Ganzert, die Pressesprecherin des Klinikums, wie es zu diesem Einsatz kam und was er ausgelöst hat. Es geschah in der Zentralen Notaufnahme. Zwei Rettungssanitäter-Teams stehen im Flur mit ihren Notfall-Patienten, die aufgenommen werden sollen. Reine Routine für die Mitarbeiterin in der Administration, während sich in den Behandlungsräumen Pflegekräfte und Ärzte um andere Patienten kümmern. Im Wartebereich sitzen zwei junge Leute. Eine Frau steht vor der Glasschiebetür, ein Mann nah dahinter. Sie schlägt mit der Hand aufgebracht gegen die Scheibe, bittet um Einlass mit den Worten: „Er hat eine Waffe, er bringt uns um.“ Eine Behauptung, die sich glücklicherweise als unzutreffend erwies. Aber sie löst eine Kettenreaktion aus.
Innerhalb von Sekunden verändert sich alles. Die Mitarbeiterin bittet den Mann, den Anmeldebereich zu verlassen und draußen zu warten. Er folgt der Aufforderung nicht. Aufmerksam hört sie derweil der Hilfe suchenden Frau zu, die sichtlich aufgewühlt, verängstigt und unter Schmerzen schildert, was zuvor zu Hause passiert war.
Der Mann habe ihr gedroht. Während dieses Dialogs ruft eine Pflegekraft nach Rücksprache die Polizei an. Der interne Krisenstab des Krankenhauses wird alarmiert. Rund ums benachbarte Ärztehaus parken jede Menge Rettungswagen. Sie sollen vorerst die Notaufnahme nicht anfahren, erklärt eine Notfallsanitäterin. Die Rettungsleitstelle sei informiert. Die Lage wird von Polizei und Leitstelle als „lebensbedrohlich“ eingestuft. Immer mehr Einsatzkräfte treffen rund um das Klinikum ein.
„Wir haben gut funktioniert“
Drinnen sorgen Pflegekräfte dafür, dass Patienten und Kollegen in den Behandlungszimmern, dass Auszubildende und Studenten im hinteren Bereich der Notaufnahme bleiben. Die Mitarbeiterin am zentralen Empfang des Klinikums achtet darauf, dass niemand in die Notaufnahme geht. Mit zwei Ausnahmen: Der leitende Notarzt und die für diesen Bereich zuständige Pflegedienstleitung, beide Teil des Krisenstabes, unterstützen die Mitarbeitenden und nehmen Kontakt zur inzwischen eingetroffenen Polizei auf.
Während sich das Personal der Notaufnahme um die schwer verletzte Frau kümmert, stellt sich wenige Minuten später die Frage, wo der Mann abgeblieben ist. Er wolle die Kinder abholen, erinnert sich seine Frau mit vor Schreck geweiteten Augen. Also ruft die Pflegekraft auch im Kindergarten an. Hier macht die Polizei den Mann letztlich dingfest. Eine Waffe hat er nicht dabei.
„Hier bei uns lief eigentlich alles relativ ruhig ab. Wir haben gut funktioniert“, berichtet Susann Ganzert, wie die Pflegekräfte die Situation mit einigen Tagen Abstand erlebt haben. Der Schreck sitze ihnen allen aber noch in den Knochen. Die zeitnahen Krisengespräche mit ihren Vorgesetzten hätten gut geholfen. Eine der professionell und souverän an diesem Freitag agierenden Frauen habe gesagt, was wohl viele dachten: „Aber so etwas brauche ich nicht nochmal“, sagt Ganzert.
Auch Annick Ochel, stellvertretende Pflegedirektorin des Klinikums, lobt ihr Team. „Unsere Mitarbeitenden haben sich sehr professionell und umsichtig verhalten.“ Und doch beschäftigt sich der Krisenstab des Klinikums nach diesem Vorfall nun noch intensiver mit der Frage, wie Beschäftigte und Patienten in Gefahrensituationen besser geschützt werden können.
Aggression nimmt vor allem in der Notaufnahme zu
Ein Einzelfall? Leider, so Ochel, nehmen Aggression und Gewalt gegenüber Mitarbeitenden des Klinikums und vor allem der Notaufnahme in jüngerer Zeit immer mehr zu. „Es macht etwas mit unseren Kolleginnen und Kollegen, die verbal oder auch körperlich bedroht werden“, sagt die stellvertretende Pflegedirektorin. Bedrohungen führen zu Traumatisierung, Arbeitsausfällen und sogar Kündigungen. Deshalb wird selbst jede Beleidigung oder physische Gewalt gegen Mitarbeitende angezeigt. Und es werden Hausverbote ausgesprochen.
Dieses Problem gibt es nicht nur am Klinikum Friedrichshafen. Mitte September 2024 greifen Familienangehörige nach dem Tod eines Angehörigen das Personal im Diakonieklinikum in Rotenburg an und verletzen einen Arzt. Im gleichen Monat rastet ein betrunkener Mann auf dem Weg ins Klinikum Marktredwitz aus und attackiert die Rettungskräfte, die er zuvor wegen Schmerzen selbst gerufen hat.
Beschäftigte in Krankenhäusern werden immer häufiger zur Zielscheibe von Gewalt. Tendenziell mehr Kliniken müssen sich systematisch gegen Übergriffe durch Patienten oder deren Angehörige schützen, ergab eine Blitzumfrage des Deutschen Krankenhausinstituts im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft. An der repräsentativen Befragung im April 2024 beteiligten sich bundesweit 250 Allgemeinkrankenhäuser ab 100 Betten – mit alarmierenden Ergebnissen. Demzufolge hat die Mehrheit der Kliniken (73 Prozent) in den vergangenen fünf Jahren eine wachsende Anzahl von Übergriffen auf Beschäftigte registriert. Die sinkende Gewaltschwelle macht sich demnach vor allem in Notaufnahmen bemerkbar. Meistens treffe es Pflegekräfte.
Das Pflegepersonal stehe unter zunehmendem Druck
Doch auch Ärztinnen und Ärzte sind in ihrem Arbeitsalltag laut Umfrageergebnis im Klinikumfeld häufig mit Beschimpfungen, Beleidigungen und anderen Formen verbaler Gewalt konfrontiert. Das zumindest ergab eine Mitgliederbefragung für den MB-Monitor 2024 der Ärztegewerkschaft Marburger Bund. Auch diese Zahlen sind bedenklich. Von den bundesweit 9649 befragten Medizinern, die in allen Bereichen des Gesundheitswesens angestellt sind, erklärte fast jeder Zweite (41 Prozent), dass Gewalt im ärztlichen Arbeitsalltag heute häufiger vorkomme als noch vor fünf Jahren. Dabei gehe die Bedrohung in drei Viertel der Fälle von Patientinnen und Patienten aus, bei etwas mehr als der Hälfte (52 Prozent) von deren Angehörigen. Auch diese Studie bestätigt: Vor allem in den Notaufnahmen und Rettungsstellen kommt es demnach häufig zu Gewalt. 38 Prozent der Befragten gaben an, die Gewalterfahrungen hauptsächlich dort erlebt zu haben.
Die Ursachen sind den Angaben der Mediziner und Pflegekräfte zufolge vielfältig. Am häufigsten nannten die Befragten Probleme wie Drogen- und Alkoholmissbrauch oder psychiatrische Erkrankungen. Aber auch überzogene Anspruchs- und Erwartungshaltungen, eine allgemeine Verrohung und Enthemmung in der Gesellschaft und strukturelle Probleme, wie lange Wartezeiten, personelle Engpässe, Ressourcenverknappung und Kommunikationsprobleme werden als Ursachen genannt.
Das bestätigt auch Annick Ochel von der Pflegedienstleitung am Klinikum Friedrichshafen. Pflegepersonal stehe unter zunehmendem Druck. Aber auch die Respektlosigkeit habe sehr zugenommen. Patienten, die in die Notaufnahme kommen, erwarten häufig, auch umgehend behandelt zu werden. Doch dort wird nach der sogenannten Triage priorisiert. Der Kränkste kommt zuerst dran. Bei der Aufnahme wird also beurteilt, wie akut der Fall des Patienten ist. Entsprechend lang kann die Wartezeit ausfallen.
Manche Kollegen würden mittlerweile statt des Nachnamens lieber den Vornamen auf ihrem Schild am Kittel zeigen, um nicht so leicht identifizierbar zu sein. Für die Klinik ist das ein Handlungsauftrag. Bei Deeskalationstrainings sollen Mitarbeiter geschult werden, um kritische Situationen mit bedrohlichen Patienten noch besser lösen zu können. „Natürlich wird jeder am Ende behandelt“, sagt Annick Ochel. Also auch die Menschen, die mal wegen aggressiven Verhaltens oder Beleidigungen ein Hausverbot erhalten haben.
Stimmung im Wartezimmer kippt: Gewalt gegen Ärzte nimmt zu | Staatsanzeiger BW
Die Gewalt in Kliniken nimmt zu
Nach einer Statistik des Innenministeriums gehört Gewalt gegen das medizinische Personal in immer mehr Kliniken und Pflegeeinrichtungen zum traurigen Alltag. Vor allem Pflegekräfte und das Personal von Notaufnahmen sehen sich demnach wachsender Aggression ausgesetzt.
Laut Kriminalstatistik der Landespolizei ist die Zahl der registrierten Straftaten gegen medizinisches Personal in Arztpraxen, Krankenhäusern und ähnlichen Einrichtungen in den vergangenen Jahren von 420 auf zunächst 393 gesunken und schließlich auf 447 Fälle im vergangenen Jahr gestiegen. Grund dafür sei vor allem die im Jahr 2024 neu eingeführte Kategorie der Beleidigung auf sexueller Grundlage (26 Fälle).