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Essay

Der ganz normale deutsche Eisenbahnwahnsinn

Das Bahnprojekt Stuttgart 21 zeigt exemplarisch, wie schwer sich das Volk der Autofahrer mit der Verkehrswende tut. Ein Essay von Michael Schwarz.

Der zahlreiche Kräne sind am Hauptbahnhof mit den Baumaßnahmen von Stuttgart 21 beschäftigt.

dpa/Silas Stein)

Zehn Kilometer Stau vor dem Gotthard – und die Schlange wird länger. Den ganz normalen Wahnsinn meldeten Schweizer Medien an Auffahrt, wie Christi Himmelfahrt bei den Eidgenossen heißt. Kein Wunder, ist doch der längste Autotunnel durch die Alpen nur zur Hälfte in Betrieb. Zwar existiert von Anbeginn, also seit 1980, eine zweite Röhre, doch die wird nur von Rettungsfahrzeugen genutzt.

Der Vollausbau wurde zunächst auf Kostengründen aufgeschoben und anschließend per Volksentscheid gestoppt. Stattdessen verlagerten die Eidgenossen einen Teil des Verkehrs 2016 auf die Schiene – in den Gotthardbasistunnel, den längsten Eisenbahntunnel der Welt, mit 57 Kilometer mehr als drei Mal so lang wie sein asphaltiertes Pendant.

So geht Verkehr heute, könnte man, in Anlehnung an den Werbeslogan einer Bank, sagen. Wenn nicht der böse Nachbar wäre. Weil die Deutschen ihr Schienennetz vernachlässigen und sich Neubauprojekte wie die Rheintalbahn um Jahrzehnte verzögern – aktueller Fertigstellungstermin ist 2041 –, fahren ab kommendem Jahr noch mehr Laster durch den Gotthardstraßentunnel. Der Lkw-Huckepackverkehr zwischen Freiburg und Novara wird zum Jahresende eingestellt. Verantwortlich sei, so der Betreiber, „insbesondere die anhaltend hohe Störungsanfälligkeit der Schieneninfrastruktur in Deutschland“.

Mit Blick auf die finanziellen Mittel kann sich Deutschland mit der Schweiz messen lassen

Andere Länder, andere Sitten? Oder Ausdruck der Tatsache, dass da jemand den Schuss, sprich, den Klimawandel, nicht gehört hat? Wenn man allein die finanziellen Mittel zum Maßstab nimmt, die im Südwesten in Großprojekte gesteckt werden, kann sich Deutschland durchaus mit der Schweiz messen lassen. Die Rheintalbahn soll 14,2 Milliarden Euro (Stand 2020) kosten, der Gotthardbasistunnel kam mit 12,2 Milliarden Franken sogar billiger. Stuttgart 21 wird derzeit auf 11,5 Milliarden Euro taxiert und ist damit um ein Vielfaches teurer als die Durchmesserlinie, die den Züricher Hauptbahnhof 2014 erst wirklich zu einem Durchgangsbahnhof machte und rund zwei Milliarden Franken kostete.

Okay – Stuttgart und Zürich lassen sich nicht ohne Weiteres vergleichen. Geht es in der Schwabenmetropole darum, eine ganze Stadt neu auszurichten, wollten die Schweizer nur ihr Schienennetz optimieren. Was allerdings bestens gelang. Zehn Mal pro Stunde gelangt man inzwischen vom Züricher Hauptbahnhof zum Flughafen. In gerade einmal neun Minuten.

Nur sechs Minuten, werden die Stuttgart-21-Fans einwenden, wird es ab Dezember 2026 hierzulande dauern. Kleiner Nachteil: Viele ICE werden am Stuttgarter Flughafen vorbeifahren. Und wer dort aussteigt, hat es weit. Auf eine Variante, die näher am Flughafengebäude liegt, konnten sich die Projektpartner nicht einigen.

Stichwort Projektpartner: Wenn man sich nur an den Aussagen der Bahn orientiert, herrscht dort Friede, Freude, Eierkuchen. Man befinde sich seit Jahren „in einem konstruktiven und vertrauensvollen Austausch“, teilt ein Pressesprecher auf Anfrage mit. Und dies, obwohl die Bahn seit 2016 im Rechtsstreit mit den Partnern liegt, weil diese ihren Finanzierungsanteil nicht erhöhen wollen?

Oberbürgermeister Nopper im Wechselbad der Gefühle

Vom Land, von der Region und sogar von der Stadt, die dem Projekt stets gewogen war, hört man denn auch andere Töne. CDU-Oberbürgermeister Frank Nopper sprach nach der jüngsten Sitzung des Stuttgart-21-Lenkungskreises noch recht konziliant von einem Wechselbad der Gefühle. Einerseits sei er froh, dass der Fertigstellungstermin nicht noch einmal verschoben wurde. Andererseits kämen die größten Streckensperrungen erst noch.

Deutlicher wurde der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann: „Das Leiden an Stuttgart 21 für Fahrgäste wird noch mal eine Stufe höher und sehr schmerzhaft sein.“ Immerhin sieht es inzwischen so aus, als würde das Eisenbahngesetz novelliert, so dass Stuttgart seinen neuen Stadtteil bekommt.

Das ganze Chaos, zu dem auch noch der ungeklärte Anschluss der Gäubahn kommt – der knapp eine Milliarde Euro teure Tunnel existiert bislang nur auf dem Papier – hätte man sich sparen können, wenn man auf die Stuttgart-21-Gegner der ersten Stunde, die Grünen Palmer, Hermann und Kretschmann, gehört hätte. Aber es ist, wie es ist. Und irgendwann werden die Züge rollen.

Nächstes Mal fragt man die Schweizer. Die haben nämlich bei solchen Großprojekten stets das Wohl der Bahn im Blick. Einen bis zu achtspurigen Ausbau ihrer Autobahnen, wie er in Deutschland längst erfolgt wäre, haben sie dagegen erst jüngst per Volksentscheid abgelehnt.

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