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Interview

Günther Oettinger: „Der neue Bahnhof wird ein architektonisches Meisterstück“

Günther H. Oettinger war von 2005 bis 2010 Ministerpräsident von Baden-Württemberg und viele Jahre als EU-Kommissar tätig. Heute ist er überwiegend als Berater tätig. Im Interview verrät er, was er in diesen angespannten Zeiten der Landesregierung rät und wieso Deutschland verteidigungsfähig werden muss. Und er erklärt, warum er nach wie vor vom Bahnprojekt Stuttgart 21 überzeugt ist.

Günther Oettinger (CDU) war von 2005 bis 2010 Ministerpräsident von Baden-Württemberg.

dpa/Bernd Weißbrod)

Staatsanzeiger: Herr Oettinger, sorgen Sie sich um den Wohlstand in Baden-Württemberg?

Günther Oettinger: Wir haben die Entwicklung, dass die Weltwirtschaft im Schnitt pro Jahr um drei Prozent wächst, die Wirtschaft in Europa um ein Prozent – und in Deutschland schrumpft sie. In Baden-Württemberg ist der Rückgang sogar noch etwas stärker. Unser Bruttosozialprodukt sinkt. Damit laufen wir Gefahr, dass unser Lebensstandard, unser Wohlstand nicht haltbar ist. Das gefährdet aber nicht nur unseren Lebensstandard, sondern vor allem auch unsere Demokratie. Denn wenn jemand Angst um seine wirtschaftliche und finanzielle Zukunft hat, ist die Gefahr, dass er aus Protest wählt oder radikal wählt, sehr viel größer.

Sie sind mittlerweile überwiegend als Berater tätig. Was raten Sie der grün-schwarzen Landesregierung in dieser Situation?

Ich halte es für richtig und wichtig, dass die Regierung sachbezogen arbeitet. Wir kennen Regierungen, in denen täglich Streit ist und im Grunde genommen die Kraft in internen Konflikten aufgewandt werden muss – das ist in Baden-Württemberg nicht der Fall. Ich würde mir wünschen, dass dies zumindest bis Ende des Jahres so bleibt – und der Wahlkampf erst nach dem 6. Januar 2025 beginnt.

Weitere Ratschläge?

Man muss den Schwerpunkt Forschung, Wissenschaft und Bildung erhalten und stärken. Da sind gute Grundlagen gegeben. Aber man kann gerade in der Grundlagenforschung, in der industrienahen Forschung, im digitalen Bereich gar nicht genug tun. Ein letzter Punkt: Baden-Württemberg hat trotz der Stagnation einen Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel. Ich glaube die Stärkung der beruflichen Schulen und der Weiterbildung, also die Stärkung der dualen Ausbildung und der Berufsschulen, der Unternehmen, der Industrie, des Handwerks müssen daher echte Priorität haben.

Was sagen Sie als einer der Väter der Schuldenbremse zum Sondervermögen der Bundesregierung?

Ich halte die Finanzierung von Verteidigung, von mehr Sicherheit – äußere und innere Sicherheit sowie Cybersicherheit – für vertretbar. Es ist für mich aber nicht in Ordnung, dass man den bisherigen Haushaltsansatz, der ja schon mit 1,5 Prozent des Bruttosozialprodukts finanziert war, absenkt auf ein Prozent und alles darüber hinaus über Schulden finanzieren will. Damit verschafft man sich Spielräume, die gefährlich sind. Nämlich Spielräume für konsumtive Ausgaben. Beim zweiten schuldenfinanzierten Infrastrukturprogramm sehe ich die große Gefahr, dass ein Verschiebebahnhof beginnt. Dass man Aufgaben, die man bisher aus dem Haushalt finanziert hat – Tiefbau, Hochbau, Schulbausanierung – über das Schuldenprogramm finanziert.

Gleichzeitig gibt es massive Finanzierungslücken etwa in der gesetzlichen Pflegeversicherung.

Die gesetzliche Pflegeversicherung steht wie auch die Rentenversicherung und die Krankenkassen vor einem gewaltigen Finanzierungsloch. Wir laufen Gefahr, dass wir keine Reformen machen, die Leistungen unverändert beibehalten, mögliche Einsparungen nicht realisieren. Und dies dann – weil wir die Beiträge nicht explodieren lassen wollen, obwohl sie mit 42 Prozent bereits über der langjährigen Linie von 40 Prozent angekommen sind – durch schuldenfinanzierte Subventionen darstellen. Das heißt, hier führen schuldenfinanzierte Programme dazu, dass man sich den Mut zu Reformen und Einschnitten erspart.

Es braucht also dringend Reformen.

Eindeutig. Unsere sozialen Systeme sind weitgehend nicht kapitalgedeckt. Und dazu die Demografie. Da ist doch klar, dass es so nicht mehr weitergeht. Mit jedem Jahr, mit dem wir das Ganze verzögern, wird die Korrektur schmerzlicher und schwieriger. Wie ein großer Tanker, der kann nicht wie ein kleines Außenbord-Motorboot auf dem Neckar innerhalb von Sekunden wenden, der braucht Jahre, um zu wenden.

Sie raten zu mehr schwäbischer Sparmentalität?

Ja. Wenn man sich die Staatsquote ansieht, also alles, was der Staat Bürgern und Unternehmen über Steuern, Abgaben, Gebühren und Beiträge abverlangt, dann liegen wir bei 49,5 Prozent. Das heißt: Von 100 Euro, die sie erwirtschaften – über Händearbeit, Kopfarbeit oder Vermögenserträge – gehen 49,5 Euro in die öffentlichen Kassen. Das wird man ja hoffentlich nicht weiter steigern wollen. Damit waren auch die Spielräume durch Einnahmen größer als je zuvor. Und deshalb ist es jetzt auch zumutbar, mit Einschnitten und Reformen zu beginnen, weil die Staatsquote nicht noch höher werden kann.

Wir haben bereits über die drohenden Arbeitsplatzverluste gesprochen. Die Automobilbranche steckt in der Krise. Auch bei den Zulieferern drohen weitere Entlassungen. Kann ein Transfer in die Verteidigungswirtschaft gelingen?

Also man kann einen Facharbeiter, Techniker oder Ingenieur von Mercedes-Benz oder Bosch oder Mahle nicht beliebig umsetzen. Ob der eine gute Pflegefachkraft wird, will ich mal bezweifeln. Aber Industrieproduktion – also die Bearbeitung von Materialien wie Blech, Stahl oder Kunststoffe, die zu biegen, schneiden, formen, zu lasern, zu Komponenten zu entwickeln, – da ist die Rüstungsindustrie dem Automotive-Bereich nicht weit entfernt. Da gibt es möglicherweise Hallen und Fabrikgebäude, die man umnutzen kann. Es gibt sicher auch gewisse Teile, die „Dual Use“-fähig sind, die ich in Autos, Lastkraftwagen einbauen kann, aber auch in leichte Panzer und in andere Militärfahrzeuge. Es besteht ein großes Potenzial, sinkende Arbeitskräftebedarfe in der Autoindustrie den steigenden Bedarfen in der Rüstungsindustrie gegenüber zu präsentieren.

Wie geht man so einen Transfer an?

Zum einen werden Unternehmen, die bislang im klassischen zivilen Bereich tätig waren, in die Rüstungsindustrie einsteigen. Zum Beispiel Trumpf in Ditzingen, die sich da gerade darauf vorbereiten. Zum anderen ist der Arbeitsmarkt relativ transparent. Wenn man weiß, dass ZF oder Bosch Tausende Stellen abbauen, wird das sofort bekannt. Arbeitsagenturen und Personalvermittler werden sich um diese qualifizierten Arbeitskräfte bemühen. Außerdem wird es mit Sicherheit Runde Tische der Politik geben, um das zu organisieren.

Wie optimistisch sind Sie, dass Deutschland bis 2029 verteidigungsfähig ist?

Ich glaube, dass es gelingen wird, das Material zu beschaffen. Unternehmen in der Rüstungsindustrie wie Rheinmetall, Diehl und Airbus Military bauen ihre Kapazitäten massiv aus. Wenn sie Planungssicherheit haben – also statt 1,5 Prozent 3,5 Prozent, wenn der NATO-Beschluss, wie ich glaube, im Juni so kommt – dann haben sie auch die Sicherheit, dass ihre Investitionen sich in der Zeit der Abschreibung als dienlich erweisen. Meine größere Sorge betrifft allerdings das Personal. Wer bedient die neuen Geräte? Wer sitzt künftig in den Panzern? Wer übernimmt die Flugabwehrsysteme, wer steuert die Drohnen? Wer bildet die Soldaten aus?

Der Personalmangel ist bei der Bundeswehr ein drängendes Thema.

Die Bundeswehr muss als Arbeitgeber attraktiver werden – das hat mit Berufsbild, Lohn und Aufstiegschancen zu tun. Möglicherweise wird man in zwei Jahren – was jetzt wohl nicht möglich war – über eine verbindliche Wehrpflicht oder eine allgemeine Dienstpflicht für junge Menschen nachdenken müssen, um an die junge Generation heranzukommen.

Sind Sie für die Wiedereinführung einer Wehrpflicht?

Ich habe Respekt davor, dass die SPD bei den Koalitionsverhandlungen dazu nicht bereit war, noch nicht bereit war. Zuvor wurde Boris Pistorius in der Ampel bei dem Thema ausgebremst. Ich kann nur raten: Diese Regierung, die nun vier Jahre regiert – Sie haben das Datum 2029 angesprochen – muss die Grundlagen dafür geschaffen haben, dass der Aufbau auf 180 000 bis 250 000 Soldaten gelingt. Man sollte damit nicht bis zum Ende der Legislatur warten.

Zur Verteidigungsfähigkeit gehört nicht nur Material und Personal, sondern auch eine Gesellschaft, die mit solchen Szenarien umgehen kann. Stichwort: zivil-militärische Zusammenarbeit, aber auch private Vorratshaltung. Müsste die Politik anders kommunizieren?

Jetzt warten wir mal ab, was die Amerikaner machen. In Stuttgart betreiben die USA zwei zentrale Einrichtungen: das European Command und das African Command. Diese Einrichtungen sind die militärischen Leitstellen, da sitzen die höchsten Generäle für alle Aktivitäten der Amerikaner in Europa und Afrika. Wenn die Amerikaner bleiben – wenn sie sehen, dass wir unsere Verteidigung aufbauen, ist dies sicher dienlich –, dann ist die Lage nicht so angespannt. Sie wäre dagegen sehr angespannt, wenn ein erratischer Präsident Trump erneut Truppen abzieht, wie er es vor acht Jahren angekündigt hat. Wären EUCOM und AFRICOM weg, dann wären wir für unsere Sicherheit allein verantwortlich. Aber das geht.

Und kann dies gelingen?

Dazu drei Zahlen: Es kann doch nicht sein, dass 340 Millionen Amerikaner die Sicherheit von 550 Millionen Europäern gegen 140 Millionen Russen gewährleisten müssen. Allein diese Zahlen zeigen: Das ist nicht tragbar. Da braucht es dann eine klare Regierungserklärung – vielleicht ist sogar eine Art „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede notwendig.

Sehen Sie da nur die Bundesregierung in der Pflicht? Oder müssten auch Landesregierungen mehr aufklären?

Alle Autoritäten sind gefragt – der Kanzler, Minister, Abgeordnete. Auch Landesminister und Parlamentspräsidenten. Nehmen Sie mal an, eine Stadt hat eine Kaserne oder will eine stillgelegte Kaserne wiedereröffnen oder gar eine neue bauen. Das muss man begründen. Wir müssen gegebenenfalls eben auch einige große Kasernen aus dem Boden stampfen. Das war in der Demokratie ab 1955 möglich, es ist andernorts möglich und sollte auch bei uns möglich sein. Gefragt sind auch Führungspersönlichkeiten aus der Wirtschaft oder auch ein hochrangiger Vertreter der Kirche. Ein gesellschaftlicher Stimmungswandel muss durch alle vorangebracht werden, die Autorität besitzen.

Verstehe ich Sie richtig, Sie sehen Nachholbedarf?

Ja. Die Zeitenwende, wie Kanzler Olaf Scholz sie im Februar 2022 in seiner vielleicht besten Rede im Bundestag angekündigt hat, muss aus dem Kasernenhof raus auf den Marktplatz, hinein in die Familien, in die Freundeskreise und an die Stammtische.

Sie haben 2014 als EU-Kommissar für Energie zwischen Russland und der Ukraine im Gasstreit vermittelt.

Diese Vermittlung begann bereits 2012. Damals war das ukrainische Leitungsnetz wichtig für unsere Gasversorgung. Es gab ständige Konflikte – zwischen der ukrainischen und der russischen Regierung. Unbezahlte Rechnungen führten zu gegenseitigen Vorwürfen, etwa dass die Ukrainer Gas abzweigen würden. Gleichzeitig hat man die ukrainischen Gasspeicher – die größten in Europa – dringend gebraucht.

Wie sind Sie vorgegangen?

Ich habe über zwei Jahre vermittelt – wir haben uns zigmal getroffen, in Sankt Petersburg, Moskau, Kiew, Odessa, in Brüssel, Wien und Berlin. Es war schon erschreckend: Die Sprachen – Russisch und Ukrainisch – sind ja sehr verwandt, dennoch bestanden beide Seiten darauf, dass je ein Dolmetscher da ist. Ich habe das später so organisiert, dass nur noch ein Dolmetscher ins Englische übersetzt – das hat vieles erleichtert. Die sind sich wie Brüder oder Halbbrüder begegnet. Ich habe mich bemüht, ein ehrlicher Makler zu sein. In meiner Rolle als Energiekommissar hatte ich Unterstützung. Wir haben die Gespräche über Jahre geführt und am Ende zum Erfolg gebracht.

Welche Erkenntnis ziehen Sie daraus?

Die Länder sind sich so nahe – und doch so fern. Die Verhandlungen wurden am 30. November 2015 abgeschlossen. Da war die Krim bereits annektiert, und Teile des Donbass unter russischer Kontrolle. Die Russen sehen sich als die Besseren und die Ukrainer als Volk zweiter Klasse. Genau dieses Selbstverständnis war die Ukraine nicht mehr bereit zu akzeptieren. Die Ukraine hatte jeden Tag Demokratie-Fortschritte gemacht, und das war für Russland ein Problem. Denn wenn die Ukraine Erfolg hat, könnte das auf Russland oder Belarus ausstrahlen. Es ging offiziell um Gas – tatsächlich aber um viel mehr.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass heute noch Vermittlungen möglich sind? Die Verhandlungen gestalten sich zäh.

Ich glaube, dass Putin sein Kriegsziel noch immer vor Augen hat. Nämlich die Unterwerfung der Ukraine, indem ein Teil Russland einverleibt wird und durch eine Marionettenregierung in Kiew, wie es sie in Minsk gibt. Das ist für Russland eine überschaubare Größe. Das wird die große Mehrheit der Ukrainer, die nach Westen blicken, niemals akzeptieren.

Sie haben einmal gesagt, dass es in der Wohlstandsgesellschaft weniger wirtschaftliche Dynamik gibt als in den Aufbaujahren nach dem Krieg. Wie steht es um die Dynamik?

Als Ungarn, die Slowakei, Tschechien, Polen, Rumänien, Kroatien und Slowenien noch Ostblockstaaten waren, waren sie keine Mitbewerber. Der Trabi war keine Konkurrenz für den Golf. Heute baut Skoda bessere Autos als VW in Wolfsburg. Die Öffnung hin zur Marktwirtschaft hat dort neue Wettbewerber, aber auch neue Absatzmärkte hervorgebracht. Ich habe mir mit den damaligen Chefs von VW, Martin Winterkorn, und Dieter Zetsche von Daimler auf der IAA in Frankfurt oft die chinesischen Autos angeschaut. Das waren blitzhässliche Kisten, schlecht verarbeitet, von Entertainment und Infotainment keine Spur.

Die Zeiten sind vorbei.

Heute ist das völlig anders. Die Navigation von Huawei ist den deutschen Systemen überlegen. Infotainment ist, wenn man das mag, genial. Was da alles blinkt und glitzert und tönt – gigantisch. Und die Verarbeitungsqualität ist gut, bei zwei Dritteln des deutschen Preises. Da sind schlafende Riesen aufgewacht. Vor Jahrzehnten war es Japan, dann Südkorea, heute China – und bald ist es Indien.

Kann Europa da aufholen, um wieder Schritt zu halten?

Ja – wir haben eine Chance. Nehmen Sie den Fußball: Bei einer Weltmeisterschaft sind unter den besten acht meist fünf bis sechs europäischen Teams – England, Niederlande, Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland. Brasilien ist manchmal dabei, aber weder China noch Japan noch die USA spielen dort eine Rolle. Warum? Weil wir die bessere Jugendarbeit leisten, hervorragende Trainer und eine harte Ausbildung haben, gute Trainingsplätze – und weil die Begeisterung von den Rängen ausgeht. Wir müssen das Spiel nur schneller spielen und besser zusammenspielen. Diese Leistungsbezogenheit im Fußball, die zeigt, dass der kleine Kontinent Europa vorne bleiben kann, die ist in der Wirtschaft und in der Gesellschaft nicht überall vorhanden.

Mit Selbstvertrauen die Chance nutzen.

Genau. Und schneller spielen, besser abspielen, uns blind verstehen – und vielleicht auch mal eine Extra-Trainingseinheit einlegen.

Und vielleicht auch wieder etwas mehr Vertrauen ins Team, in die Mitspieler?

Ja, mehr Vertrauen braucht es auch.

Nach Deutschland. Friedrich Merz ist als Mitglied des Andenpakts, der in Opposition zu Merkel stand, CDU-Chef geworden. Wie zuversichtlich stimmt Sie das?

Der Start war etwas holprig mit dem ersten Wahlgang. Auch aktuell läuft noch nicht alles rund. Aber ich bin trotzdem voller Zuversicht, ich glaube, dass das Vertrauen zwischen Merz und Klingbeil funktioniert. Diese Regierung weiß, dass sie sich nicht wie die Ampel ständig streiten darf. Im Gegenteil: Sie wissen alle, dass man mit einer erfolgreichen Arbeit vielleicht wieder Wähler von der AfD zurückgewinnen kann. Ich weiß, dass der Friedrich mit viel Elan und Ehrgeiz an die Sache herangeht. Und mit Thorsten Frei aus Donaueschingen hat er einen exzellenten Mann hinter sich. Ich bin optimistisch.

Haben Sie schon das Buch von Altkanzlerin Angela Merkel gelesen?

Wenn ich ehrlich bin, noch nicht ganz. Vielleicht 100 Seiten. Ich habe es erst vor ein paar Wochen gekauft, es war lange ausverkauft. Ich lese mal zwei Seiten hier, mal fünf Seiten dort. Was mich gerade interessiert.

Wie bewerten Sie im Rückblick Angela Merkels politisches Erbe?

Merkel hat in schwierigen Zeiten – Finanzmarktkrise, Staatsschuldenkrise, Immobilienkrise etc. – den europäischen Laden zusammengehalten. Sie hat innerlich für Stabilität gesorgt. Umgekehrt hat sie Reformen von Gerhard Schröder – die Agenda 2010 – als Grundlage für eine gute wirtschaftliche Entwicklung gehabt, hat sie jedoch nicht weiterentwickelt. Es gab keine Agenda 2020. Auch hat sie mit Putin viele Gespräche geführt. Damit hat sie ihn vermutlich davon abgehalten, den Krieg früher zu beginnen. In dieser Zeit hat die Ukraine viel geleistet: beim Aufbau ihrer Streitkräfte, im Kampf gegen Korruption – sie ist heute ein verteidigungsfähiger Staat.

Was lief nicht so gut?

Die Bundeswehr wurde in schlechtem Zustand übergeben. Wenn ein General sagt, „wir sind blank“, dann ist das auch Ausdruck politischen Versagens. Die Bundeswehr fällt auch in Angela Merkels Verantwortung.

Mit dem frisch gekürten Spitzenkandidaten Manuel Hagel (2.v.l.), Annette Schavan und Stefan Mappus (links) steht Günther Oettinger beim Landesparteitag der CDU im Mai auf der Bühne. Foto: dpa/Bernd Weißbrod

Nach Baden-Württemberg: Warum halten Sie Manuel Hagel für den richtigen Kandidaten der CDU für die Landtagswahl 2026?

Er ist enorm fleißig – ein echter Schaffer. Er ist wissbegierig und lernfähig, er fragt viel und erweitert seinen Wissensstand jeden Tag. Wenn man ihn heute als Gesprächspartner betrachtet im Vergleich zu vor zwei oder fünf Jahren, erkennt man einen riesigen Fortschritt. Und: Dass er zu jung sei – das erledigt sich von selbst.

Zum Schluss noch zum Bahnprojekt Stuttgart 21: Sie haben das Projekt stets unterstützt – bereuen Sie das heute manchmal?

Nein, im Gegenteil. Natürlich sind die Kosten aus dem Ruder gelaufen. Punkt. Aber man darf nicht vergessen: Das Projekt nahm schon in den 1980er-Jahren seinen Anfang. Der Verkehrswissenschaftler Gerhard Heimerl von der Universität Stuttgart gilt als geistiger Vater des Projekts. 1994 wurde es angekündigt, damals von Oberbürgermeister Manfred Rommel, von Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann, Landesverkehrsminister Hermann Schaufler, Ministerpräsident Erwin Teufel und Heinz Dürr, dem legendären Schwaben und Bahnchef. Jetzt, über 30 Jahre später, wird es endlich eröffnet. In dieser Zeit haben sich Vorschriften im Brandschutz geändert, Baumaterial massiv verteuert, geologische Erkenntnisse wurden gewonnen – Stichwort Grundwasser. Die Entwicklungen erklären viele der Kostensteigerungen.

Das Ergebnis ist also die Kosten Wert?

Ich bin regelmäßig auf der Baustelle, war auch bei der Eröffnung der Strecke nach Ulm dabei. Ich behaupte: Der neue Bahnhof wird das attraktivste Gebäude Stuttgarts – ein architektonisches Meisterstück, vergleichbar mit dem Mercedes-Benz-Museum. Kein reiner Funktionsbau, sondern ein architektonisches Highlight. Er wird Architekten, Touristen und Kongresse nach Stuttgart ziehen – und die Stadt deutlich aufwerten.

Sie sagen auch, ohne Stuttgart 21 wäre Baden-Württemberg vom europäischen West-Ost-Verkehr abgehängt.

Die Strecke Paris–Budapest würde ohne Stuttgart 21 über Saarbrücken, Mannheim und Frankfurt verlaufen – an Baden-Württemberg vorbei. Mit Stuttgart 21 aber verlaufen diese Verbindungen über Karlsruhe, Stuttgart und Ulm – drei Großstädte im Herzen des Landes. Damit sind wir mittendrin – nicht nur knapp daneben. Ich bin überzeugt: Nach der Inbetriebnahme wird sich auch die öffentliche Meinung grundlegend ändern.

Zur Eröffnung 2026 werden Sie dann also auch dabei sein?

Wenn ich eingeladen bin und es sich beruflich einrichten lässt – ja, selbstverständlich.

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Zur Person

Günther Oettinger war von 2005 bis 2010 Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Der Jurist gehörte von 2010 bis 2019 der EU-Kommission an, zunächst bis 2014 als Kommissar für Energie, von 2014 bis 2016 als Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft und zuletzt als Kommissar für Haushalt und Personal bis 2019. Seit 2021 ist der 71-Jährige Präsident der EBS Universität für Wirtschaft und Recht.

Mittlerweile hat er eine eigene Beratungsgesellschaft – Oettinger Consulting – und ist Leiter eines ungarischen Innovationsrates. Im November 2020 wurde Oettinger Mitglied des Aufsichtsrats der Herrenknecht AG, wo er den ehemaligen Bahnchef Rüdiger Grube ablöste. 2024 wurde Oettinger Lobbyist für das umstrittene chinesische Unternehmen Shein und ist für diesen als freier Berater tätig. Oettinger war von 2005 bis 2009 Landesvorsitzender der CDU Baden-Württemberg. Ihm folgte Stefan Mappus, der auch Oettingers Nachfolge als Ministerpräsident antrat. Oettinger ist ein bekennender und treuer Fan des VfB Stuttgart, wo man ihn öfter antrifft.

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