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Die Geheimnisse hinter den Mauern der Villa Reitzenstein

Der Haupteingang der Villa Reitzenstein führt durch ein messingbeschlagenes Portal direkt in das Foyer.
Achim Zweygarth)Stuttgart. Joachim Brüser rückt seine Brille zurecht und lässt seinen Blick über die Villa streifen. Das Anwesen liegt in Halbhöhenlage in Stuttgart und ist eingebettet in eine große Parkanlage. Brüser kennt nicht allein die Villa und den Park wie seine Westentasche. Schließlich hat der Geschichtsprofessor mit dem Schwerpunkt Landesgeschichte der Frühen Neuzeit ein Buch darüber geschrieben. Er ist außerdem im Staatsministerium für Fragen rund um das Protokoll zuständig.
Nun steht er hier an diesem sonnigen Tag vor dem Eingangsportal, dort, wo sonst die Staatsgäste ankommen. Denn die Parkanlagen kann nicht einfach jeder besichtigen. Wer hier hinein will, muss auf der Gästeliste stehen. Die Villa Reitzenstein ist nicht einfach ein historisches Gebäude, sondern auch der Regierungssitz von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne).
Brüser schmunzelt, denn in seinem Buch über die Villa Reitzenstein hat er das eine oder andere Gerücht widerlegt, das immer wieder bei Führungen erzählt wird. „So heißt es zum Beispiel, dass die Villa für Königin Charlotte gebaut wurde“, sagt er, „aber das ist schlichtweg falsch.“
Tatsächlich war Helene von Reitzenstein Bauherrin der Villa. Das erzählt Joachim Brüser mit Blick auf das aus Sandstein erbaute Gebäude. „Man sieht, wie sie an nichts gespart hat – und auch an nichts sparen musste“ sagt Brüser. Die Witwe, die den Adelstitel ihres verstorbenen Mannes Carl Friedrich Sigmund Felix Freiherr von Reitzenstein trägt, wurde in eine wohlhabende Familie geboren. Sie entstammte der Familie Hallberger, die ein Vermögen mit der Arbeit im Verlagswesen verdient hat.
Brüser steht vor dem Haupteingang und wendet sich an die Besucher: „Der Ort ist an der Stelle ehrlicher als andere Gebäude. In Brüssel oder Berlin stehen Regierungsgebäude aus Glas und sie sehen sehr transparent aus, aber man sieht trotzdem nicht, was dahinter passiert.“
Hier kommen auf der majestätischen Auffahrt die Gäste mit dem Auto an. „Hier fahren die Karossen vor“ erklärt Brüser. Aber genug der Vorrede, jetzt hinein in das herrschaftliche Gebäude. Durch ein messingbeschlagenes Portal geht es in das Foyer. Hier sind die Flaggen von Europa, Deutschland und Baden-Württemberg aufgestellt. Eine dunkle Marmortreppe führt in den zweiten Stock und somit näher an die stuckverzierten Decken. „Die Eingangshalle ist nicht der Ort, an dem Ministerpräsident Winfried Kretschmann seine Gäste empfängt“, erzählt Brüser.
Der ist eine Tür weiter, hinter der sich der sogenannte Runde Saal verbirgt. Der große Kronleuchter im Mittelpunkt der Decke greift dort mit zahlreichen Armen in den Raum. Große Tageslichtfenster lassen zusätzliches Licht hinein.
Der Gobelinsaal verdankte seinen Namen einer Tapisserie aus Paris
Gleich nebenan ist ein absolutes Highlight der Villa: der Gobelinsaal. Hier hat früher das Landeskabinett getagt. An der lang gezogenen rechteckigen Form des Raumes erkennt man jedoch den ursprünglichen Nutzen: Hier wurde in den Anfängen gespeist . An den Wänden hängen Tapisserien, die oftmals fälschlicherweise als Gobelin bezeichnet werden: „Gobelin ist wie Tempo. Nicht jedes Taschentuch ist ein Tempo und nicht jede Tapisserie ist ein Gobelin“, sagt Brüser. Nur die „Wandteppiche“ aus der Originalmanufaktor in Paris dürfen so genannt werden. Aus Frankreich stammen diese hier nicht, aber sie wirken dennoch würdig im Saal.

Joachim Brüser schreitet durch die vielen Doppeltüren und macht dann im Eckzimmer Halt: „Das ist der alte Herrensalon“, sagt er, und man meint fast, den Zigarrenqualm des vergangenen Jahrhunderts noch riechen zu können. Hier lädt der Ministerpräsident gerne Journalisten zu Gesprächsrunden ein. „Früher haben sich Männer bei einer Veranstaltung hierher zurückgezogen“, sagt Joachim Brüser.
Damals wie heute schlummern die dunklen Holzvertäfelungen an den Wänden. Mittendrin: ein Marmorkamin. „Jeder würdige, adlige Raum hat natürlich einen Kamin“ erklärt Brüser. Deshalb hat Helene von Reitzenstein auf dem Kunstmarkt mehrere Marmorkamine erstanden, die extrem wertvoll sind. „Als das Land die Villa gekauft hat, wurden die Nebengebäude einfach im Kaufvertrag aufsummiert, aber die Marmorkamine wurden einzeln aufgeführt.“
Ein weiterer magischer Ort ist die Ahnengalerie aller Ministerpräsidenten, die von hier aus regiert haben. „Nach ihrer Amtszeit beauftragen sie einen Künstler, der sie verewigt“, berichtet Brüser. Das Porträt von Günther Oettinger ist dabei ein besonderer Hingucker. Die Künstlerin Anke Doberauer hat das Bild mit einem Einschussloch links vom ehemaligen Ministerpräsidenten ergänzt. Darüber soll Günther Oettinger herzlich gelacht haben. Doch es hatte Konsequenzen, wie Brüser erzäht: „Seither erhalten die Künstler einen etwas klareren Auftrag.“ Im nächsten Jahr wird sich das Porträt von Winfried Kretschmann einreihen.
Die Bibliothek erinnert an das Lebenswerk der Familie Hallberger
Und dann der wohl mit Abstand schönste Raum, das Herzstück der Villa: die Bibliothek. Brüser schätzt, dass die Holzvertäfelungen älter sind als die Villa selbst. Entsprechend laut ist das Knarren der Dielen, wenn Besucher die Wendeltreppe hinauf in die Galerie steigen.
Auf der zweiten Ebene müssen alle den Kopf einziehen, um die literarischen Schätze genauer betrachten zu können. Doch warum ist dieser Raum so wichtig? „Ohne Bücher hätte es das Haus hier nie geben können.“ Schließlich hat die Familie Hallberger ihr Vermögen mit Büchern verdient. Auch hier ist ein Marmorkamin. Ein reines Dekorationsobjekt, wie die im gesamten Haus, geheizt kann damit nämlich nicht werden: „Helene von Reitzenstein war eine moderne Frau und sie baute ein modernes Haus.“ Noch vor dem Z weiten Weltkrieg wurde ein Fernheizsystem eingebaut. Ein Detail unterstreicht ihre Haltung: „Sie besaß bereits mehrere Autos, während Kaiser Wilhelm II. noch auf einem Pferd ritt.“
Im oberen Stockwerk der Villa finden die Gäste zahlreiche Verwaltungsräume, in denen die Mitarbeiter des Staatsministeriums arbeiten. Es finden sich aber auch einige Kunstwerke. Dabei ist es nicht der Picasso, der die Menschen zum Staunen bringt. Es sind zwei Gemälde, die Helene von Reitzenstein nach ihrem Auszug aus der Villa im Sommer 1922 mit sich genommen hatte. Um sie aufhängen zu können, brauchen die Räume eine überdurchschnittliche Deckenhöhe.
Etwas, das weder sie in ihrem späteren Wohnhaus gewährleisten konnte, noch ihre Nachkommen. Ihre Familie entschied sich daher in den 80er Jahren dazu, die Gemälde zurück an die Villa Reitzenstein zu schenken. Nun hängen sie erneut an den hohen Wänden und zeigen die Baronin Helene und ihren verstorbenen Gatten. Brüser: „Die Bauherren passen sehr genau auf, wer in das Büro des Ministerpräsidenten eingelassen wird und wer nicht“ witzelt der Historiker.
In diesem Stockwerk waren auch die Wohnräume der Helene von Reitzenstein. Sie sind, wie die Bibliothek, zur Südfront ausgerichtet. Das erlaubte der Baronin bereits zu den ersten Sonnenstrahlen aufzustehen, während ihr Blick auf den Rosengarten gerichtet war. Der liegt direkt vor den großen Fenstern: „Es war ein einziges Feld voller Rosen,“ sagt Brüser.
Und dann, ebenfalls im zweiten Stock, das Zentrum der Macht: der Kabinettssaal. Hier finden seit den 50er-Jahren die Sitzungen der Landesregierung statt. An einem großen, ovalen Holztisch finden sich die politisch mächtigsten Personen des Landes ein und regieren gemeinsam. Wobei hier nicht viel diskutiert wird: „Hier wird entschieden, was vorher beraten wurde.“
Helene von Reitzenstein nutzte den heutigen Kabinettssaal jedoch auf eine andere Art. Sie hatte eine Leidenschaft für ein ganz besonderes Spiel und stattete den Raum entsprechend aus: Mit Billardtischen. Für ihr Hobby hatte sie in jedem ihrer Wohnhäuser einen eigenen Bereich: „Sie hat selbst nach dem Tod ihres Mannes das Bett aus seinem Schlafzimmer geschmissen und einen Billardtisch reingestellt.“ Der Spaß wurde jedoch schon vor langer Zeit von ernsten Gesprächen abgelöst.

Zum Ende der Führung zeigt Brüser einen ganz besonderen Ort, ein kleines Geheimnis der Villa. Über eine schmale, hölzerne Treppe gelangt man auf das Dach. Hier kommt Winfried Kretschmann in der Regel nur allein hinauf, um einmal durchzuatmen und einen klaren Kopf zu bekommen. Nur selten teilt er diese Aussicht und wenn, dann mit erlesenen Gästen. Oben angekommen verschlägt es den Besuchern den Atem.
Die Halbhöhenlage erlaubt einen wunderschönen Blick über ganz Stuttgart. Fern ab den Trubel und doch unmittelbar in der Stadt reicht der Blick über den ganzen Kessel. Bis hin zum Pragfriedhof, wo sich das Mausoleum der Familie Hallberger befindet. Dort, wo Helene ihre letzte Ruhe gefunden hat.
Um den mystischen Ort der Villa Reitzen᠆stein zu erkunden, hat die Redaktion des Staatsanzeigers einen ausführlichen Dokumentarfilm über diesen Ort der Macht gedreht. Die Moderatoren, Staatsanzeiger-Chefredakteur Rafael Binkowski und Volontärin Leonie Henes, sind durch alle wichtigen Räume des herrschaftlichen Gebäudes gelaufen, und haben sich von Joachim Brüser Historie und Nutzung erklären lassen. Den ausführlichen Text und das Video über diesen außergewöhnlichen Besuch in den Hallen der Macht auf der Stuttgarter Halbhöhenlage finden Sie hier:
