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Die Parlamentarier aus dem Land sind in Berlin angekommen

Simone Fischer aus Stuttgart, hier am Reichstagsufer, ist die erste kleinwüchsige Abgeordnete im Bundestag.
Stefan Kaminski)Berlin. Das hat er sich auch nicht träumen lassen, dass die Woche so völlig anders enden würde, als sie begonnen hat. Als ich den Stuttgarter Linken Luigi Pantisano am Dienstag vergangener Woche in seinem Büro im Jakob-Kaiser-Haus treffe, dem größten der fünf Liegenschaften, in denen die 630 Bundestagsabgeordneten in Berlin untergebracht sind, geht er noch davon aus, dass es bei der Richterwahl am Freitag auf seine Stimme ankomme. Und diejenigen der anderen 63 Linken im Hohen Hause. Und nicht auf geschätzte 50 Mitglieder von CDU und CSU, die ihrem Fraktionschef Jens Spahn und damit der gesamten Koalition die Gefolgschaft verweigern.
Linker erhält Ordnungsruf, weil er einen AfDler der Lüge zeiht
Es ist unser zweites Mal. Kennengelernt haben wir uns am 6. Mai, dem Tag der Kanzlerwahl . Kurz zuvor hatte Pantisano zu seinem eigenen Erstaunen festgestellt, dass er plötzlich Teil des großen Ganzen geworden ist, das man Bundespolitik nennt. Und jetzt, gut 100 Tage nach der konstituierenden Sitzung am 25. März, hat er bereits seinen ersten Ordnungsruf kassiert, weil er einen AfD-Abgeordneten der Lüge zieh. Er ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender geworden, Mitglied im Verkehrsausschuss und im Arbeitskreis Klima und Wohnen. Und er hat Friedrich Merz einen Clown genannt.
Zu all dem steht er. Mit dem Clown-Zitat habe er auf die Bemerkung von Merz reagiert, der Bundestag sei kein Zirkuszelt, weshalb auf dessen Dach keine Regenbogenfahne gehöre. Und er trug blau, als Grüne und Linke am 26. Juni im Plenum in den Farben des Regenbogens erschienen, um gegen das Verbot der Regenbogenfahne durch die Bundestagspräsidentin zu demonstrieren.
Auch Simone Fischer nahm an dieser Aktion teil. Und das ist nicht das Einzige, was Pantisano und Fischer verbindet. Sie sind ein Jahrgang, 1979. Und beide kommen aus demselben Wahlkreis, Stuttgart 1, den Cem Özdemir 2021 mit großem Vorsprung gewonnen hatte. Fischer konnte den Erfolg am 23. Februar wiederholen, wenn auch denkbar knapp: Nur fünf Stimmen trennten sie von Elisabeth Schick-Ebert (CDU).
Als Grüne und Linke gegen das Fahnenverbot demonstrierten, trug Fischer einen grünen Blazer und saß in der dritten Reihe. Wie immer: Der Platz ist für sie reserviert. Das ist die große Ausnahme. Ansonsten kann sich jeder Abgeordnete innerhalb des Bereichs seiner Fraktion überall hinsetzen. Fischer aber soll es nicht so weit haben. Außerdem bekommt sie eine Fußbank.
Ohnehin hat die Bundestagsverwaltung einiges unternommen, um der ersten kleinwüchsigen Abgeordneten das Leben zu erleichtern. Ihr Büro befindet sich nicht wie jene der Fachkollegen in der Straße Unter den Linden, sondern im Jakob-Kaiser-Haus, näher am Plenarsaal. Sie nimmt ihr Rad, das sie über alles liebt, mit ins Büro. Das Rednerpult lässt sich – Wolfgang Schäuble sei Dank, der seit 1990 im Rollstuhl saß – einstellen.
Im Übrigen legt Fischer, die von 2022 bis 2025 Landesbehindertenbeauftragte in Baden-Württemberg war, Wert darauf, nicht auf ihre Behinderung reduziert zu werden. Ihr Fachgebiet ist denn auch ein anderes: „Ich setze mich für gute und bezahlbare Pflege, nah bei den Menschen, ein“, sagt die pflegepolitische Sprecherin der Grünen. Sie arbeitet in einer Bund-Länder-Kommission mit, sitzt im Petitionsausschuss, im Ältestenrat und in der Kinderkommission.
Was wohl die sechs Monate alte Tochter von Johannes Rothenberger dazu sagen würde, die der Abgeordnete durch den Reichstag trägt? Der Offenburger Christdemokrat fragt sich gerade, wo er sie ablegen kann, weil der Reporter ein Foto von ihm machen will. Zum Glück steht mitten im Gang ein großes Ledersofa. Dorthin legt er die Kleine, die weiterschläft, als sei nichts geschehen. Ein Kollege wacht.
Rothenberger ist nicht der einzige im Hohen Hause, der seinen Nachwuchs bisweilen dabei hat. Auch Lina Seitzl , die seit vier Jahren den Wahlkreis Konstanz vertritt, verbindet Familie und Beruf. Die Sozialdemokratin profitiert davon, dass ihr Mann von Berlin aus im Homeoffice arbeiten kann und alle vier Großeltern bei der Betreuung ihrer bald acht Monate alten Tochter einspringen. „Das ist alles auf Kante genäht und ein Koordinationsaufwand“, sagt die 36-jährige Politologin. Doch das führe auch dazu, zielgenauer zu arbeiten und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.
In welche Kategorie ein Untersuchungsausschuss zur Maskenaffäre gehört, der möglich wäre, wenn die SPD zustimmte, muss offenbleiben. Seitzl hält ihn derzeit für unnötig, schließt ihn aber auch nicht kategorisch aus. Richtig findet sie, dass der ehemalige Gesundheitsminister im Gesundheitsausschuss aussagt, dem sie inzwischen angehört. Sie steht außerdem seit 3. Juni den „Netzwerkern“ vor, einer Gruppe in der SPD, die sich zwischen der Parteilinken und dem Seeheimer Kreis verortet.
Schäuble-Nachfolger weiß: Ohne Mehrheit kann man nicht regieren
Letztlich geht es bei der Aufarbeitung der Maskenaffäre wie bei der geplatzten Richterwahl um die Frage, wie viel sich die Partner zumuten können, ohne dass die Koalition Schiffbruch erleidet. Jens Spahn, der Mann im Auge des Orkans, kann sich glücklich schätzen, Kollegen wie Johannes Rothenberger um sich zu wissen, die sich auf ihre fachpolitische Arbeit, in diesem Fall den Wohnungsbau, konzentrieren. Und den Einsatz für die Menschen vor Ort.
Beides ist dem 44-jährigen Rechtsanwalt wichtig, der in Offenburg das Erbe von Schäuble antrat, für den er früher Wahlkreisarbeit machte. Doch auch ihm ist klar: Ohne Mehrheit kann man nicht regieren. Darauf verwies er schon am 6. Mai im Reichstag, als es bei der Kanzlerwahl Spitz auf Knopf stand.
Angekommen ist auch Diana Zimmer , die jüngste der fünf Abgeordneten, die der Staatsanzeiger begleitet (siehe unten). Die 27-jährige AfD-Abgeordnete aus Pforzheim ist in den sozialen Medien sehr präsent. Eine ihrer Bundestagsreden zählte in der vorletzten Plenarwoche 85 000 Aufrufe auf Youtube und 328 000 Aufrufe auf Instagram, womit sie in den Sitzungswochen unter den Top Ten ihrer 151-köpfigen Fraktion landete. Wobei der Zuspruch nicht nur auf ihre rhetorischen Fähigkeiten zurückzuführen sein dürfte. Sie achtet auch auf ihre Optik.
Im Bundestag gehört sie dem Finanzausschuss und dem Auswärtigen Ausschuss an. Mit Finanzen hat sie sich beruflich beschäftigt. Und was die Außenpolitik betrifft, verweist sie auf ihre deutsch-russischen Wurzeln: „Als Aussiedlerkind war ich früh mit dem Thema der Interkulturalität befasst. Dadurch haben sich bei mir sowohl ein Verständnis für bestimmte Kulturen als auch gewisse diplomatische Eigenschaften herausgebildet“, sagt sie. Woraus man jedoch nicht den Schluss ziehen dürfe, dass sie Verständnis für Putins Krieg habe: „Die Positionen der AfD sind bekannt: Die AfD verurteilt den russischen Angriffskrieg, fordert aber trotzdem diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Krieges.“
Am 8. September tritt der Bundestag wieder zusammen. Dann kehren auch die fünf Abgeordneten nach Berlin zurück. Auf ein Neues. In die ach so große Politik.
Was machen die Neuen?
79 Abgeordnete aus Baden-Württemberg gehören dem Bundestag an. 24 von ihnen sind Neulinge. Wie ergeht es ihnen? Wie gehen sie mit ihrer Verantwortung um? Der Staatsanzeiger begleitet vier von ihnen in den kommenden Jahren. So auch in Teil zwei der Serie, in der Woche der gescheiterten Richterwahl. Dazu gesellt sich eine fünfte Abgeordnete, die schon eine Legislaturperiode dabei ist – bei der SPD hat es anders als bei CDU, AfD, Grünen und Linken kein Neuling in den Bundestag geschafft.