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Reportage aus dem Bundestag

Die historische Kanzlerwahl aus Sicht der Südwest-Abgeordneten

Es gibt immer ein erstes Mal, auch für einen Kanzler. Wobei es auch ein zweites Mal gibt, wie wir seit dieser Woche wissen. In jedem Fall eine Premiere haben so vier Bundestagsabgeordnete aus Baden-Württemberg erlebt. Sie sind neu im Hohen Haus. Eine andere ist schon etwas länger dabei. Die Beobachtungen von Michael Schwarz an einem historischen Plenartag.

Zittern bis zum Schluss (von links):
Unions-Fraktionschef Jens Spahn, der neue 
Bundeskanzler Friedrich Merz und sein neuer 
Innenminister Alexander Dobrindt haben sich 
die Wahl am Dienstag leichter vorgestellt.

dpa/photothek.de)

Berlin. Es ist erst ihre zweite Plenarsitzung, doch eines hat Simone Fischer (Grüne), Bundestagsabgeordnete aus Stuttgart, schon gelernt. „Man muss immer essen, wenn sich die Gelegenheit ergibt.“ Weil sich solche Gelegenheiten mir nichts dir nichts in Luft auflösen können, etwa wenn man mit einem Reporter im Abgeordnetenrestaurant sitzt und die Bundestagspräsidentin das Ergebnis der Kanzlerwahl, Teil zwei, verkündet. Wie es ihrer SPD-Kollegin Lina Seitzl aus Konstanz am Dienstag passiert ist. Womit der Tag so gut wie gelaufen war – zum Glück, jedenfalls, wenn man das Ereignis durch die Brille derer sieht, die sich von Deutschland Stabilität erwarten.

Dass dieser Tag so versöhnlich enden könnte, ist kurz nach zehn, als Julia Klöckner (CDU) das Ergebnis des ersten Wahlgangs verkündet, noch nicht abzusehen. Da hat Friedrich Merz 310 Ja-, 307 Nein-Stimmen und drei Enthaltungen bekommen. „Der Abgeordnete Friedrich Merz hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 316 Stimmen nicht erreicht“, verkündet die Bundestagspräsidentin.

Der Schock sitzt tief nicht nur bei den Spitzen von SPD und von Union, welche kurzerhand ihren Unvereinbarkeitsbeschluss zur Linken kassiert, um einen zweiten Wahlgang noch am selben Tag zu ermöglichen. Sondern auch bei Abgeordneten, die erst seit einem Vierteljahr Berliner Luft schnuppern wie Johannes Rothenberger (CDU). Der 44-jährige Jurist hat am 23. Februar den Wahlkreis von Wolfgang Schäuble verteidigt. Jetzt versucht er, das Erlebte einzuordnen. „Dies Ergebnis kann ein Schönheitsfehler sein, es kann aber auch sein, dass der Kanzler keine Mehrheit hat. Dann haben wir ein Riesenproblem“, sagt er.

In der Wiederauflage der Groko dagegen sieht er eine Chance. „Die Menschen brauchen im Alltag den Eindruck, dass der Staat funktioniert.“ Er erlebe gerade am eigenen Leibe das Gegenteil: Vor viereinhalb Monate haben seine Frau und er einen Sohn bekommen. Doch das Kindergeld fließt immer noch nicht. „Wir verzweifeln am Antrag.“

„Warten wir, wie es weitergeht“, sagt Gysi und bestellt ein Frühstück

Da ist es kurz nach zwölf und keiner weiß, was der Tag noch bringt. Gregor Gysi kommt in das Restaurant mit dem Blick aufs Kanzleramt. Der Alterspräsident des Bundestags muss es doch wissen. Doch der Linke stochert auch im Nebel. „Warten wir mal ab, wie es weitergeht“, sagt der 77-Jährige und bestellt ein großes Frühstück. Immerhin diese Lektion hat er in 34 Jahren Bundestag gelernt.

Der Reporter muss vor die Tür, frische Luft schnappen. Hier scheint die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, wovon auch die Fahrer profitieren, die sich zwischen Reichstag und Jakob-Kaiser-Haus die Füße in den Bauch stehen.

Doch zurück ins Labyrinth, das sich Bundestag nennt. Die nächste Station ist das ehemalige Büro der Herren Lindner und Buschmann. Inzwischen hat sich hier die AfD breitgemacht. Diana Zimmer aus Pforzheim lobt das Sitzmöbel in ihrem neuen Büro, auf dem möglicherweise schon der FDP-Vorsitzende saß.

Zimmer, blonde Haare, langstielige Pumps, steht für „Professionalisierung“ der Partei, wie der Co-Landesvorsitzende Markus Frohnmaier sie nennt. Man will raus aus der Schmuddelecke. „Wir haben uns von unserer Fundamentalopposition getrennt“, sagte die 26-jährige Betriebswirtin, deren Eltern als Spätaussiedler aus Russland kamen. Zur Erklärung: Drei Mitglieder haben kürzlich die Fraktion im Pforzheimer Gemeinderat verlassen. Seither ist die AfD nicht mehr stärkste Kraft.

Die eine kämpft gegen Tempo 30 in der Stadt, der andere dafür

„Ich bin permanent mit Pforzheim verbunden“, erzählt sie, und dass es alles andere als einfach sei, die gestiegenen Erwartungen zu erfüllen. „Meine Wähler wollen schneller als 30 fahren“, nennt sie einen Punkt. „Versuchen Sie mal, einem Bürger zu erklären, dass das wegen Brüssel und Berlin nicht so einfach geht.“

Ein paar Treppen weiter scheint die Reise durch den Bundestag zu enden. Ein Gang mit einer eindrucksvollen Lichtinstallation – über dem Kopf leuchten gelbe Neonröhren – endet an einer verschlossenen Tür. Doch da kommt dem Reporter der Stuttgarter Linken-Abgeordnete Luigi Pantisano entgegen und führt ihn zurück in den zweiten Stock. Das Büro habe er vor einer Woche bezogen, das Namensschild sei heute dazugekommen. Pantisano ist fasziniert, dass er plötzlich all die Berühmtheiten, die er bislang nur aus den Medien kannte, persönlich trifft. Das sei wie im Theater. Oder wie bei Phoenix.

Es war bestimmt eine gute Idee der Bundestagsverwaltung, Zimmer und Pantisano in unterschiedlichen Gebäudetrakten unterzubringen. Nicht nur über Tempo 30 würden sie sich streiten. Pantisano hat es sich zur Gewohnheit gemacht, AfD-Mitglieder anzuzeigen, wenn diese Formulierungen wie „Remigration schafft Wohnraum“ verwenden. Oder behaupten, dass Adolf Hitler ein Kommunist gewesen sei, wie Alice Weidel in ihrem Talk mit Elon Musk.

Einen guten Job macht die Verwaltung auch aus Sicht von Simone Fischer. Die ehemalige Landesbehindertenbeauftragte ist kleinwüchsig. Das hat man im Plenarsaal berücksichtigt und ihr einen speziellen Stuhl in die dritte Reihe gestellt. Auch Kolleginnen haben geholfen: Bevor sie ein eigenes Büro bekam, kam die grüne Sprecherin für Pflegepolitik bei Zoe Mayer und Ricarda Lang unter.

Lina Seitzl ist schon ein bisschen länger dabei. Die Konstanzer Sozialdemokratin zog 2021 erstmals in den Bundestag ein. Ihrer Beobachtung nach gibt zwei Sorten von neugewählten Abgeordneten. Diejenigen, die mit sehr viel Euphorie starten und dann erkennen müssen, dass die Mühlen langsam mahlen. Und diejenigen, und dazu zählt sie sich, bei denen sich Euphorie mit Demut paart, weil sie die Verantwortung spüren, die auf ihren Schultern liegt.

Verantwortung trägt die 35-Jährige seit fünf Monaten auch für eine Tochter, die die Abstimmungen im Wickelraum verbringt. Wenn sich aber mal ein Zeitfenster öffnet wie am Dienstagabend, als sich das Kabinett zum Bundespräsidenten begibt, trifft man beide am Reichstagsufer. Merke: Man muss nicht immer essen, man kann auch andere schöne Dinge tun, wenn es gerade geht.

Staatsanzeiger-Redakteur Michael Schwarz verfolgt das Drama von der Pressetribüne aus. Foto: Schwarz

Was machen die Neuen?

79 Abgeordnete aus Baden-Württemberg gehören dem neuen Bundestag an. 24 von ihnen sind Neulinge. Wie ergeht es ihnen? Wie gehen sie mit ihrer Verantwortung um? Der Staatsanzeiger begleitet diese Abgeordneten in den nächsten Jahren. So an auch an diesem historischen Tag. Als Friedrich Merz zum Kanzler gewählt wird und dafür anders als seine Vorgänger zwei Wahlgänge braucht. Zu den vier Neuen gesellt sich eine schon länger amtierende Abgeordnete, weil es bei der SPD anders als bei CDU, AfD, Grünen und Linken kein Neuling in den Bundestag geschafft hat.

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