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Mord am Polizisten Rouven Laur

Eine Urteilsbegründung, die unter die Haut geht

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und sie gilt für Mörder ebenso wie für ihre Opfer. Dies betonte der Vorsitzende Richter in der Urteilsbegründung zum Fall des ermordeten Polizisten, die alle, die sie vernommen haben, so schnell nicht vergessen werden.
Zwei Personen im Raum, eine mit Handschellen, hält ein Dokument vor das Gesicht.

Sulaiman A., der sein Gesicht 
hinter Akten verbirgt, wird am Dienstag in Stuttgart zu einer 
lebenslangen Freiheitsstrafe 
verurteilt.

Marijan Murat)

Stuttgart. Es ist nicht nur das Urteil , das Bestand haben dürfte. Es ist auch eine mündliche Urteilsbegründung, die vielen Menschen unter die Haut geht, die an diesem Dienstagmorgen zum Oberlandesgericht nach Stuttgart-Stammheim gekommen sind. Drei Stunden und fünf Minuten nimmt sich der Vorsitzende Richter Herbert Anderer Zeit, allen Beteiligten der schrecklichen Tat vom 31. Mai 2024 gerecht zu werden.

Richter sieht keine Rechtsgrundlage für eine Sicherungsverwahrung

Also auch dem Angeklagten, der auf dem Mannheimer Marktplatz einen Polizisten tötete und fünf weitere Menschen schwer verletzte, vier davon lebensgefährlich. Sulaiman A., vermutlich 1999 in Afghanistan geboren, 2013 nach Deutschland gekommen, scheinbar gut integriert, dann jedoch derart radikalisiert, dass er seine Aufgabe darin sah, vermeintlich Ungläubige zu töten. Und der die Taten, die er innerhalb von gerade einmal 25 Sekunden beging, nun jahrzehntelang büßen muss – auch wegen der besonderen Schwere der Schuld, die das Gericht feststellte. Was den Eltern von Rouven Laur den Sohn und seinen beiden Schwestern den Bruder nicht zurückbringt.

Es ist schon erstaunlich, wie in der Pressekonferenz, die der Urteilsverkündung folgt, alle Anwälte der Familie des ermordeten Polizisten dem Richter ihren Respekt zollen. Keine Rede mehr davon, dass es doch bitte schön ein noch härteres Urteil geben müsse – eines, das dafür sorgt, dass der Attentäter nie mehr in Freiheit kommt. Für die Anordnung einer anschließenden Sicherungsverwahrung hätte die Ausgangslage eine andere sein müssen, hat der Richter zuvor die Rechtslage zu eindeutig beschrieben. Und die besagt nun einmal, dass ein „Lebenslänglicher“ ohnehin erst dann auf Bewährung entlassen wird, wenn er keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit darstellt. Und dass eine Sicherungsverwahrung eben keine Strafe ist und auch nicht als solche verhängt werden könne, weil sie nicht der Sühne gilt, sondern dem Schutz Unbeteiligter.

Der dienstälteste Strafsenatsvorsitzende am Stuttgarter Oberlandesgericht, das wird in solchen Momenten deutlich, ist auch einer, der anderen die Leviten liest. Etwa denjenigen aus dem Umkreis der Familie Laur, die so etwas zeitweise gefordert haben. Aber auch jenen, die die Meinungsfreiheit über alles stellen. Dabei stehe die Menschenwürde im Grundgesetz noch vor der Meinungsfreiheit. Darauf, findet Anderer, hätten die Anwälte in ihren Plädoyers durchaus eingehen können. Und nicht nur ihnen gilt dieser Seitenhieb. Sondern auch dem Islamkritiker Michael Stürzenberger und dessen Bürgerbewegung Pax Europa. Deren Darstellung eines gewaltbereiten Islams mag, so Anderer, für Menschen wie A. gelten, nicht aber für zahlreiche gemäßigte Muslime, die es eben auch gebe.

In den kleinsten Details schildert Anderer den Tathergang. Wie A. anfangs noch scheinbar unbeteiligt neben dem Stand der Bürgerbewegung Pax Europa stand. Wie er sich dann in einem unbeobachteten Moment auf Michael Stürzenberger stürzte. Wie der Afghane auf weitere Unterstützer von Stürzenberger einstach. Und dann auf Rouven Laur, als dieser einen Passanten festhielt, der A. zur Unterstützung gekommen war, wobei dessen Motivation unklar blieb. Der Senat hatte eine Vernehmung des Zeugen abgelehnt, auch weil die Gefahr bestanden hätte, dass sich der Zeuge selbst belastet, wie der Richter am Dienstag ausführt.

Der Tat vorausgegangen war eine Radikalisierung, die diejenigen, die A. aus seiner Jugend kannten, nicht verstehen konnten. Da waren Lehrerinnen und Lehrer, die ihn als einfühlsam schilderten. Da war das Bild eines jungen Mannes, der seine Jugendliebe, eine Deutschtürkin geheiratet hatte; die beiden haben eine Tochter und einen Sohn. Und da war der erfolgreiche Taekwondo-Kämpfer.

Doch beruflich gelang es A. nicht, Fuß zu fassen. Gleichzeitig radikalisierte er sich im Internet, sympathisierte mit dem „Islamischen Staat“, schaute sich immer wieder schreckliche Bilder aus dem Gaza-Krieg an und fand schließlich einen geistigen Führer namens O., der ihm bedeutete, dass es seine Pflicht sei, Ungläubige zu töten. Wer dieser O. war, konnte das Gericht nicht klären. Ohnehin hätte der Vorsitzende Richter gerne mehr erfahren – etwa über die Persönlichkeit des Angeklagten, der an den meisten der 36 Verhandlungstage schwieg. Ein ähnlicher Eindruck bei der Urteilsverkündung. Äußerlich gepflegt und scheinbar ungerührt folgt er hinter einer Plexiglasscheibe den Ausführungen, die für ihn unter anderem zur Folge haben, dass er seine Kinder nicht aufwachsen sieht.

Herbert Anderer, das macht er deutlich, geht das Tatgeschehen und die Folgen nahe. Dies wird auch in einer Episode deutlich, die er vor die juristischen Details stellt. Vor einiger Zeit sei ihm bei einer Veranstaltung des SWR in Baden-Baden der Sohn des deutschen Militärattachés Andreas Baron von Mirbach begegnet, der bei der RAF-Geiselnahme 1975 in Stockholm ermordet wurde. Clais Baron von Mirbach verlor seinen Vater mit zwölf Jahren. Damals sei ein Meteorit in ihre „Bullerbü-Familie“ gestürzt. Und danach sei es nie mehr so gewesen wie zuvor.

Und doch hasse er die Mörder seines Vaters nicht mit der Begründung, dieser Hass würde ihn nur selber treffen. Das Glück der Familie sei fortan zerbrechlicher geworden. Doch es gebe auch nach derartigen Einschlägen eine Zukunft.

Für eine höhere Wertschätzung und gerne mehr Geld für die Polizei

Ob Herbert Anderer damit die Herzen der Familie Laur erreicht, muss offenbleiben. Ihre Anwälte wollen sich nicht dazu äußern, der Vater verlässt während der Urteilsverkündung den Saal. „Keiner hier hat das geringste Recht, Ihnen Ratschläge für Ihre Trauer zu geben.“ Das sagt Anderer auch. Doch den Versuch, allen gerecht zu werden – weit über das Maß hinaus, das man bei solchen Gelegenheiten gewohnt ist –, den hat der Vorsitzende Richter gemacht.

Zumal er auch die Bedeutung des Polizistenberufs für eine freie Gesellschaft betont. Und sich für eine höhere Wertschätzung, gerne auch in Euro und Cent, ausspricht. Das Lob derer, die ihre Knochen für Rechtsstaat und Demokratie hinhalten und dafür bescheiden honoriert werden, es ist in dieser Urteilsverkündung immer wieder zu hören. Zumal es einen von ihnen getroffen hat, der herausstach. Der eigens Arabisch lernte, um die Menschen, mit denen er es täglich zu tun hatte, besser zu verstehen. Der ein Vorbild für andere war und es nach Einschätzung seiner Kollegen weit gebracht hätte.

Herbert Anderer räumt ein, dass es in der Juristerei immer nur um eine Annäherung an die Wahrheit gehen kann. Dass dies ihm, seiner Kollegin und seinen drei Kollegen im Falle des ermordeten Polizeihauptkommissars Rouven Laur weitgehend gelungen ist, dafür spricht einiges.

36 Verhandlungstage, über 70 Zeugen und Sachverständige

35 Tage verhandelte der fünfte Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart, bevor er am 36. sein Urteil sprach. Mehr als 70 Zeugen und Sachverständige wurden gehört. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, jedoch haben nach der Verkündung am Dienstag in Stuttgart-Stammheim sowohl die Bundesanwaltschaft als auch die Verteidigung und die Vertreter der Nebenkläger angedeutet, dass sie auf eine Revision zum Bundesgerichtshof verzichten dürften.

Am 14. Juni 2024 versammeln sich seine Kollegen in der Mannheimer Innenstadt, um Rouven Laur zu gedenken. Die Trauer um den Polizeihauptkommissar, der von einem Islamisten ermordet wurde, hält bis heute an. Foto: dpa/Uwe Anspach
Michael Schwarz)

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