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Erdbeben in der Türkei: Was Katastrophenhelfer zwischen Trümmern und Tränen erlebt haben

Sieben Tage lang sucht das deutsche Team von @fire nach den verheerenden Erdbeben im türkischen Kahramanmaras nach Verschütteten. Unter den 17 Ersthelfern, davon ein halbes Dutzend aus Baden-Württemberg, ist Lukas Wachter vom Bodensee. Fünf Menschen konnten sie retten.
Lukas Wachter vor einem Trümmerhaufen in Kahramanmaras.

Lukas Wachter vor einem Trümmerhaufen in Kahramanmaras.

@fire)

ISTANBUL/FRIEDRICHSHAFEN. Kaum 15 Stunden nach den ersten Erdbeben in der Türkei und Syrien sitzt Lukas Wachter im Flugzeug. Im Gepäck schwere Stiefel, Helm, die dick wattierte, gelbe Jacke mit dem @fire-Schriftzug auf dem Rücken. Der 33-Jährige aus Friedrichshafen ist Teil des 17-köpfigen Teams aus Deutschland, das nach der Naturkatastrophe Nothilfe leisten will. Jeder weiß: Nach drei Tagen schließt sich das Zeitfenster, Überlebende aus Trümmern zu bergen.

Lukas Wachtel ist Grundschullehrer. Mitten im Unterricht, ruft ihn der @fire-Heimatstab an. In der großen Pause bekommt er grünes Licht von der Schule, 13.30 Uhr die Nachricht, dass um 18 Uhr die Maschine in Frankfurt abhebt. Er schafft es auf den letzten Drücker, dank Polizeieskorte vom Schalter am Fraport bis zum Flieger – ohne Tickets, ohne Bordkarten.

Dolmetscher Baris hält das sechsjährige Mädchen im Arm, dass die Katastrophenhelfer aus Deutschland nach 72 Stunden unter Trümmern mit seiner Mutter retten konnte. 8 Bilder

Über Istanbul geht es nach Adana, wo die Ausrüstung auf sich warten lässt. Verlorene Zeit. Doch die zwei Tonnen Material braucht das Team, um sich fünf Tage lang autark zu versorgen. Dazu das technische Gerät. Dann geht es weiter nach Kahramanmaraş, eine 600.000-Einwohner-Stadt im Süden Anatoliens. Ein Regierungsvertreter hatte Fahrzeuge organisiert. 24 Stunden nach dem Erdbeben kommen sie mitten in der Nacht an. „Ich hab‘ noch schnell eine Nachricht nach Hause geschrieben: Wie im Krieg.“ Sie sehen Trümmerfelder, die noch rauchen. Als ob es eben erst passiert wäre. Dazwischen Menschen, die in der Eiseskälte Wärme an Feuern oder nach Angehörigen suchen.

Rettungshunde im Einsatz

Eine Hälfte des Teams baut das erste Camp auf, so, dass alle nachrückenden Trupps dort auch Platz haben. Die andere Hälfte beginnt mit den Rettungshunden nach Verschütteten zu suchen – mit Erfolg. Der Mensch, den sie aus dem Schutt holen, lebt. „Aber gefühlt alle 100 Meter gab es weitere Einsatzstellen, weil die Hunde anschlugen“, erzählt Wachter.

Im Morgengrauen geht er Klopfgeräuschen aus einem einst fünfstöckigen Haus nach. „Wir haben angefangen, uns über Stunden in den Trümmerhaufen hineinzuarbeiten. Irgendwann war ich drin, nur noch meine Füße haben rausgeguckt. Unser Dolmetscher hat gesagt, ich soll immer das Wort ‚konuş‘ sagen. Das heißt ‚sprich‘. Und ein Kind hat geantwortet! Das war komplett verrückt. Dann wussten wir sicher, dass zwei Lebende, die Mutter und ihr Kind, da drin sind. Vom Vater und dem zweiten Kind hat man nichts mehr gehört.“ 20 Stunden lang arbeiten sie sich in die Tiefe des Hauses vor, bis sie beschließen, es doch mit dem Bagger zu versuchen. Minenarbeiter sind zur Stelle, sie treiben einen Stollen in den Bau hinein.

„Sie haben überlebt“

Von Montag bis Samstag arbeiten die Retter durch, nur unterbrochen von zwei bis vier Stunden Schlaf, den sie sich abwechselnd gönnen. Endlich sind die Helfer bis zur Mutter und ihrer sechsjährigen Tochter vorgedrungen, die so lange unter einem Türstock ausharren mussten. Als sie beide rausholen konnten, war Wachter am Schlafen. „Sie haben überlebt“, sagt er lächelnd.

Fünf Menschen rettet das Team. „Wir haben am Freitag nach über 100 Stunden seit dem Erdbeben noch eine 15-Jährige befreit, der es trotz Quetschungen und Frakturen in den Füßen noch gut ging. Unfassbar“, sagt der 33-Jährige. Aber es gibt auch die anderen, traurigen Geschichten. Die vom Vater, der zum @fire-Team kam, fest daran glaubend, dass Frau und Baby noch im Haus sind und leben. Sie werden herausgeholt, tot. „Wie viele da drin liegen, lässt sich leicht ausrechnen. Auch das gehört dazu.“

Verabschiedet wie Helden

Und doch hinterlässt dieser Einsatz trotz seelischer und körperlicher Strapazen bei ihm eine Zufriedenheit. Nicht nur, weil sie das Glück hatten, Menschen retten zu können, sagt er. Er spricht von einer Bevölkerung, die ihnen Unterstützung zukommen ließ. „Dieses Miteinander war unglaublich. Diese Menschen haben alles verloren und uns versorgt, so gut sie nur konnten.“ Wie Helden seien sie verabschiedet worden.

Jetzt ist er froh, daheim zu sein. „Die Türkei war für mich immer Strand und Urlaubsland. Bei Frost im Zelt zu schlafen, das war nicht witzig.“ Sieben Tage Strapazen, den Geruch des Todes, des Staubs und giftiger Feuer in der Nase. Doch genau die Herausforderungen suchen er und seine Kollegen. Über 400 Männer und Frauen gehören bundesweit zum Verein @fire. Der Friedrichshafener ist seit fünf Jahren dabei.

Wachter ist nicht nur bei der Feuerwehr in Friedrichshafen und Ravensburg aktiv, sondern auch Rettungssanitäter, der als DRK-Ersthelfer Notfallhilfe leistet. Die Arbeit für den internationalen Katastrophenschutz ist ehrenamtlich, ohne einen Euro Vergütung. Dass er für den Einsatz in der Türkei quasi von jetzt auf gleich freigestellt wurde, rechnet er der Leitung der Bodenseeschule hoch an.

Wie viele Wochenenden er ausgebildet, trainiert wurde, lässt sich nicht zählen. „Das geht lang, bis man überhaupt mitfahren darf.“ Dann die Risiken im Einsatz und die Sorgen der Freundin, der Familie. Seine Co-Klassenlehrerin übernimmt klaglos seine Arbeit in der Schule, wenn er über eine Woche lang weg ist. Das alles sei nicht selbstverständlich. „Ein Mensch allein ist nichts. Zusammen sind wir ein Berg.“ Die beiden Sätze ihres Dolmetschers hat Wachter noch im Ohr.

Quelle/Autor: Katy Cuko

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