Pflegefamilien gesucht: Warum Kinder wie Regina mehr als nur ein Dach brauchen

Regina (19) kam als Baby zu ihrer Pflegefamilie. Sie hatte Glück und konnte sich wunderbar entwickeln. Das Bild zeigt sie beim Yoga, sie macht viel Sport und studiert Schauspiel in Stuttgart.
Petra Mostbacher-Dix)Stuttgart. „Ich war gerade mal sieben Monate alt und erinnere mich nicht.“ Regina erzählt mit diesen Worten, wie sie zu ihrer Pflegemutter kam. Diese wiederum erinnert sich umso genauer an den Abend. „Das Telefon klingelte, ich wurde gefragt, ob ich ganz schnell ein Baby aufnehmen kann“, schildert Andrea Leitgeb.
Die studierte Sozialpädagogin war als Bereitschaftspflege bei der KIT Jugendhilfe Tübingen gemeldet. Das bedeutet, ein Kind vorübergehend aufzunehmen, das aufgrund einer akuten Krisen- oder Gefährdungssituation aus einer Familie herausgeholt werden muss.
Doch für Jugendämter wird es zunehmend schwerer, passende Pflegefamilien zu finden, die Kindern und Jugendlichen Schutz, Geborgenheit und ein zweites Zuhause geben, wenn die leiblichen Eltern zeitweise oder längerfristig nicht mehr für sie sorgen können.
Beim Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien (PFAD) wird geschätzt, dass jährlich bundesweit mindestens 4000 neue Pflegeeltern fehlen, besonders für die Altersgruppe der Null- bis Dreijährigen. Vergangenes Jahr habe es über 200 Anfragen von Jugendämtern an die KIT Jugendhilfe gegeben, so Wera Thomßen, dort Bereichsleiterin für sozialtherapeutische Erziehungsstellen.
Allerdings habe nur ein Kind aufgenommen werden können! „Wir brauchen mutige neue Bewerberinnen und Bewerber.“ Auch Barbara Brüchert, Bereichsleitung Jugend- und Bildung beim Paritätischen Wohlfahrtsverband, unterstreicht, gerade für jüngere Kinder seien Pflegefamilien wichtig, um tragfähige Bindungen aufzubauen und sich positiv zu entwickeln.
Das Baby Regina hatte Glück mit der Pflegefamilie
Positiv lief es für Baby Regina: Andrea Leitgeb machte nicht nur Bereitschaftspflege, sie nahm die Kleine als Pflegetochter auf – zu ihren vier eigenen Kindern. Nun zählt Regina 19 Lenze und macht begeistert eine Ausbildung an der Stuttgarter Schauspielschule. „Beim Schauspielen lernt man viel über sich selbst, das wollte ich früh.“ Doch zunächst schloss sie die Realschule ab, mit Notendurchschnitt 1,75. „Das war unsere Abmachung, erst einmal die Schule“, so Leitgeb und erzählt, wie sich die ganze Familie über Reginas Erfolge gefreut habe.
Das sind Meilensteine, die man gemeinsam bewältigt. Regina nickt. Die Unterstützung ihrer Pflegefamilie hat ihr Sicherheit gegeben, sie ist in einem guten Haus herangewachsen, hat so Selbstbewusstsein entwickeln können. „Das war wichtig, ich weiß jetzt, wer ich bin. Meine Pflegemutter war mein Fels in der Brandung. Obwohl ich wohl nicht immer einfach war.“
Durch unterdrückte Traumata sei immer wieder eine Wut in ihr aufgestiegen: „Weil meine Geschichte so turbulent war.“ Regina sei ein höchst aktives Kind gewesen, nimmt Leitgeb den Faden auf und lacht. „Sie übte ihre Stimme sehr, das kommt ihr nun für das Schauspielstudium zugute.“ Auch Sport aller Art sei ein Ventil gewesen: Sie macht ganz viel, von Akrobatik und Tanz über Yoga bis zum Krafttraining mit dem eigenen Körpergewicht.
Von ihren leiblichen Eltern weiß sie, dass diese weder finanziell noch psychisch in der Lage gewesen seien, sich um sie zu kümmern. Sporadisch hat sie Kontakt zu ihnen. Sie reiste auch mal mit ihrem Vater nach Spanien, wo dieser lebt, um mehr über ihre Familie zu erfahren. „Ich kann nicht leugnen, wo ich herkomme und wer meine Vorfahren sind.“
Das gehöre ja alles zu ihr, wie ihre Pflegefamilie. Und auch wenn ein Pflegekind zu sein, für sie „nie so ein Ding war, man hängt das nicht an die große Glocke“, so habe es schon schwierige Momente gegeben. Eben wenn es um Familie ging: „Keine Ahnung, wie viele Geschwister ich durch meine leiblichen Eltern habe.“
Nachfragen möchte sie das nicht. Sie auch nicht kontaktieren, wenn es um Genetik geht, etwa um Krankheiten, die vererbt werden könnten.
„Theoretisch habe ich fünf Menschen, die ich Eltern nennen könnte“, konstatiert sie. So gibt es neben den biologischen Eltern und Pflegeeltern auch den Vater ihrer vier Geschwister, der eine Rolle in ihrem Leben spielt – Andrea Leitgeb ist zum zweiten Mal verheiratet.
Die erzählt schmunzelnd, was sie ihrem zweiten Mann sagte, als sie ihn kennenlernte: „Uns kriegst du nur zu fünft.“ Eine davon ist ihre leibliche Tochter Lara. Sie war vier Jahre alt, als Regina zur Familie kam „Sie war schnell für mich meine Schwester“, betont sie.
Dass ihre Familie ein Pflegekind aufnahm, habe sie auch dazu bewegt, sich früher mit Themen auseinanderzusetzen, die andere später angingen. Sich etwa die Frage zu stellen, was Familie eigentlich bedeute. Klar, so Lara, erinnere sie sich an manche herausfordernde Situation. „Wie spricht man in der fünften Klasse darüber, dass am Wochenende zu Hause schon wieder eine Tür kaputtgegangen ist?“
Mit Freundinnen und Freunden habe sie wenig darüber sprechen können. Und sie würde sich wünschen, dass es bei der fachlichen Begleitung von Pflegefamilien auch mehr Angebote oder Workshops für die leiblichen Kinder gebe, sie nach deren Bedürfnissen gefragt würden.
Doch sie betont auch: „Dass Regina zu uns gekommen ist, ist mit das Beste, was uns als Familie passiert ist, ich habe eine Schwester dazu gewonnen!“ Daher habe sie sich denn auch für Jugendhilfe zu interessieren begonnen. Heute studiert die 23-Jährige Soziale Arbeit, macht gerade darin den Master, nebenher arbeitet sie in der Jugendhilfe.
Will sie irgendwann einmal selbst Pflegekinder bei sich aufnehmen? „Das schließe ich nicht aus.“ Auch Regina beschreibt, dass sie sich von ihren Pflegegeschwistern gut aufgenommen gefühlt habe. „Ich würde es allen Kindern, die nicht bei ihren leiblichen Eltern leben können, wünschen, dass sie in so einem Rahmen groß werden können, wie ich.“

Es braucht viel Liebe, Bedacht und Erfahrung
Den Rahmen hat Andrea Leitgeb mit Liebe, Bedacht und Erfahrung gesetzt. Schon seit 30 Jahren ist sie professionelle Pflegemutter, also eine Pflegemutter mit fachlichem Hintergrund. Ihr erstes Kind war schon geboren und das zweite bereits unterwegs, als die Sozialpädagogin sich entschied, noch Pflegekinder aufzunehmen. In gutem Kontakt steht sie mit ihrer Pflegetochter vor Regina.
„Man braucht viel Verständnis, Willen und Nerven, vor allem Wertschätzung, muss immer die oft schwere Herkunft im Auge haben“, sagt Leitgeb. Viele der Kinder brächten in jungem Alter Päckchen mit, die manche ihr Leben lang nicht tragen müssten, heißt es auch bei der KIT Jugendhilfe Tübingen.
Pflegefamilien stehen immer auch in der Öffentlichkeit
Zumal Pflegefamilie stets auch gewissermaßen in der Öffentlichkeit stünden, durch den regelmäßigen Austausch mit dem Jugendamt und anderen Stellen. „Daran muss man sich gewöhnen“, so Leitgeb „Wichtig ist, mit allen vertrauensvoll im Gespräch zu sein, es braucht ein Netzwerk“, sagt sie. Geht es doch auch um die Verbindung zwischen den Menschen im vertrauten Lebensumfeld des Pflegekindes – Eltern, Geschwister, Angehörige – und den Kontakten zu Vormündern, Jugendämtern, Gerichten, Kindergärten, Schulen und Therapierenden.
„Das Zusammenleben mit Pflegekindern ist eine herausfordernde Aufgabe“, unterstreicht Wera Thomßen von der KIT Jugendhilfe Tübingen. Die Kinder kommen aus sehr schwierigen Lebenssituationen, sind meist in ihrer Entwicklung stark beeinträchtigt und weisen hohe Bedarfe an Förderung auf.“ Daher berate man in kontinuierlichen Reflexionsgesprächen, gehe auf die Lebensrealität des Kindes ein und unterstütze in Krisenzeiten. Die KIT Jugendhilfe Tübingen vermittelt Pflegekinder nur in Familien, wo zumindest ein Partner einen fachlichen Hintergrund hat. Bei Jugendämtern ist das nicht so. Stets indes steht ein längerer Eignungsprüfungs-Prozess der Pflegepersonen am Anfang.
Andrea Leitgeb wird nun, nachdem Regina erwachsen ist, selbst in die Beratung wechseln. Ihre Entscheidung, Pflegekinder aufzunehmen, hat sie nie bereut. Sie wolle benachteiligten Kindern ein neues Heim bieten, die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen, Altes abzuschließen. Das sei nicht immer einfach, aber „jeder kleine Fortschritt freut mich wahnsinnig, gibt und gab mir Kraft weiterzumachen, durchzuhalten, macht auch ein bisschen stolz. Wer weiß, vielleicht werde ich ja in einigen Jahren dann Pflegeoma.“
Pflegekinder im Land
Im Südwesten lebten im Jahr 2023 laut Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg fast 6880 junge Menschen in Pflegefamilien, 87.000 in Deutschland. Es gibt in der Vollzeitpflege Pflegefamilien ohne fachlichen Hintergrund und professionelle Pflegefamilien für traumatisierte Kinder, wo ein Elternteil Pädagogik-Expertise hat. Alle bekommen Geld für Kleidung, Essen, Unterbringung und einen Pflegesatzbetrag für Erziehung nach Lage. Da Pflegeeltern oft Teilzeit arbeiten oder nicht, fordert der Paritätische Baden-Württemberg einen gesetzlichen Elterngeldanspruch für sie, bessere Rentenleistungen und Erziehungszeiten auch für Bereitschaftspflege.