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Lernwerkstatt gibt Orientierung und Halt

Derzeit wird bei sechs Millionen Menschen angenommen, dass ihre Lese- und Schreibkompetenzen „für eine volle politische Teilhabe nicht ausreichen“.
IMAGO/Zoonar.com/Anastasiia Tori)Stuttgart. Stuttgart ist Vorbild. In Weilimdorf erfahren 80 Neuzugewanderte zwischen zehn und 14 Jahren, wie Schule funktioniert. Lernwerkstatt heißt das „einzigartige Modellprojekt“, so die Beschreibung, in dem ein interdisziplinäres Team von Lehrerinnen und Sozialpädagoginnen dafür sorge, „dass die Jugendlichen lesen und schreiben lernen, eine sprachlich-mathematische Grundbildung erhalten sowie sozio-emotional stabilisiert werden“. Geboten würden Orientierung und Halt, in der Regel neun Monate lang. Fünf Jahre lang sollen Erfahrungen gesammelt werden, um sie, wie Kultusministerin Theresia Schopper (Grüne) verspricht, „auf andere Schulstandorte zu übertragen oder ins Regelsystem zu überführen“.
Hohe Zahl von Analphabeten ist seit einem Vierteljahrhundert bekannt
Dann könnte Weilimdorf überall sein, wenn Geld und Fachkräfte vorhanden sind. Seit einem Vierteljahrhundert ist bekannt, dass – trotz Anstrengungen, Engagement und einschlägiger Förderangebote – die Zahl der Analphabeten in Deutschland hoch ist. 2011 kamen konkrete Zahlen auf den Tisch: Mehr als vierzehn Prozent, 7,5 Millionen Menschen der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren waren betroffen. 5,2 Millionen davon erreichten das Alpha-Level drei: die Satzebene, auf der sie einzelne Sätze lesen und schreiben können. Derzeit wird bei sechs Millionen Menschen angenommen, dass ihre Lese- und Schreibkompetenzen „für eine volle politische Teilhabe nicht ausreichen“.
Durch die sozialen Netzwerke geistern Behauptungen, wonach vor allem Migranten verantwortlich sind für solche Zahlen. Doch Fachleute an der Uni Hamburg verweisen darauf, dass Menschen in Flüchtlingsunterkünften gar nicht miterfasst wurden. Ohnehin, sagt ein Sprecher im Kultusministerium Baden-Württembergs, „sind die Ursachen und Gründe für Sprachförderbedarfe, bis hin zum Analphabetismus, vielfältig und gehen über mögliche migrationsbedingte Ursachen hinaus“. Viele Fehlzeiten durch Krankheit können schwer zu schließende Lücken in den Lese- und Schreibunterricht reißen, ebenso häufige Schul- oder Lehrkräftewechsel und Mobbing-Erfahrungen.
Mit einer parlamentarischen Anfrage hat sich die SPD-Landtagsfraktion nach dem Stand der Dinge erkundigt, gerade auch unter dem Aspekt, dass die Landesregierung die Sprachförderung deutlich ausbauen möchte. „Wir wollen wissen“, schreiben die Abgeordneten, „wie viele schulpflichtige junge Menschen einen Bedarf an zusätzlicher Unterstützung haben und welche Maßnahmen die Landesregierung in Zukunft hierfür ergreifen wird“. In der Antwort muss das Kultusministerium bekennen, dass konkrete Zahlen gar nicht vorliegen.
Für die Komplexität der Herangehensweise steht der Umgang mit Kindern ohne deutsche Wurzeln. Zu unterscheiden sei zwischen unterschiedlichen Bedürfnissen, so Schopper in ihrer Antwort. Es gebe die sogenannten Zweitschriftlernenden, die bereits in einem Schriftsystem alphabetisiert wurden und noch das lateinische Schriftsystem erlernen müssen.
Für Schüler ohne Vorerfahrung gibt es spezielle Alphabetisierungsklasse
Diese Schülerinnen und Schüler könnten häufig erfolgreich am Unterricht einer Vorbereitungsklasse teilnehmen und parallel in zusätzlichen Alphabetisierungskursen das lateinische Alphabet erlernen. „Für Schülerinnen und Schüler, die in keinem Schriftsystem alphabetisiert wurden und die oftmals zusätzlich keine oder nur eine geringe Schulvorerfahrung aufweisen, können spezielle Alphabetisierungsklassen raumschaftsübergreifend eingerichtet werden.“ Auf diesen Unterricht folgt der Unterricht in einer jener Vorbereitungsklassen, in denen laut Schopper eine möglichst schnelle Teilintegration angestrebt wird. Dieser Zeitraum, in der Regel bis zu zwei Jahren, kann in Ausnahmefällen verlängert werden.
Für Stuttgart-Weilimdorf betont Vector-Geschäftsführer Thomas Beck: „Die jungen Menschen im Modellprojekt haben schon viel Belastendes erlebt, und wir möchten ihnen dabei helfen, sich eine bessere Zukunft aufzubauen.“ Bildung sei die beste Starthilfe zur Integration, und Integration komme nicht nur den betroffenen Jugendlichen zugute, sondern auch Unternehmen und der gesamten Gesellschaft. Sein Unternehmen stelle deshalb gerne „dafür die Infrastruktur bereit“.
Nicht nur Lehrkräfte bieten Sprachförderung an
Sprachförderangebote setzen laut Angaben des Kultusministeriums großenteils Bestandslehrkräfte um, ferner Pensionäre, (Lehramts-)Studierende, ausländischen Lehrkräfte und Personen mit einer Deutsch-als-Zweitsprachen-Ausbildung. Dies schließt Angebote zur Alphabetisierung mit ein. Doch fehlen auch hier konkrete Daten. „Die Anzahl der im Rahmen von Alphabetisierungsangeboten eingesetzten Lehrkräfte wird statistisch nicht erfasst“, so ein Sprecher.