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Fluchtgefahr

Offener Vollzug ist immer eine Gratwanderung

Die FDP-Fraktion kritisiert, dass die Zahl der aus dem Vollzug Geflohenen zugenommen hat und sieht das Justizministerium in der Pflicht. Ein Blick zurück in frühere Jahre relativiert jedoch die aktuelle Zahl der Entweichungen.

Der Innenhof mit Sportplatz in der Justizvollzugsanstalt in Bruchsal.

dpa/Ronald Wittek)

Stuttgart. Elf Entweichungen gab es laut Justizministerium 2023 aus Einrichtungen des offenen Vollzugs. Zwei weitere gab es bei Aus- und Vorführungen, eine bei einer Außenbeschäftigung. Im langjährigen Vergleich könne man nicht von einem Anstieg der Zahlen sprechen, in den vergangenen zwölf Jahren waren es im Durchschnitt neun. Aus dem geschlossenen Vollzog verzeichne man seit Jahren keine einzige Flucht.

Eine kleine Anfrage begründete Julia Goll (FDP), Sprecherin für Angelegenheiten des Strafvollzugs, damit, dass Entweichungen die Landespolitik und die Bevölkerung derzeit überdurchschnittlich beschäftigten. Die Anfrage soll die Zahl der Entweichungen für die vergangenen acht Jahre abfragen, um die Zahlen in Relation bringen zu können. „Man muss leider feststellen, dass es im Jahr 2023 zu mehr Entweichungen gekommen ist, als in den zwei Jahren zuvor zusammen“, kommentiert Goll. Corona könne nicht die einzige Erklärung dafür sein, denn die Anzahl der Ausführungen in 2023 lag nur 15 beziehungsweise 18 Prozent über denen in 2021 und 2022. „Zudem fällt auf, dass im letzten Jahr mit einem Mörder und einem räuberischen Erpresser gleich zwei Gefangene entweichen konnten, die zu lebenslanger beziehungsweise langjähriger Haftstrafe verurteilt wurden“, sagt sie.

Goll: „Das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung leider darunter erheblich“

Ausgerechnet bei Ausführungen von Schwerverbrechern haben Goll zufolge die Sicherheitsmaßnahmen versagt. „Das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung leider darunter erheblich.“ Zumal sich sechs der im Jahr 2023 Entwichenen noch immer auf freiem Fuß befänden. „Wir werden genau beobachten, ob die von uns eingeforderten und von der Ministerin auch angeordneten Verschärfungen bei den Ausführungen die Zahl der Entweichungen eindämmt.“

Das Justizministerium hatte Ende 2023 die Vorgaben für die Justizvollzugsanstalten bei den Aufenthalten außerhalb des Gefängnisses verschärft, nachdem zwei Fluchten für Aufregung gesorgt hatten. Zunächst war Ende Oktober ein in der Justizvollzugsanstalt Bruchsal inhaftierter Mörder bei einer Ausführung in Germersheim (Rheinland-Pfalz) geflohen war. Er ist nach wie vor flüchtig. Am 14. Dezember gelang dann einem weiteren Häftling aus der Justizvollzugsanstalt Mannheim bei einem Arzttermin im benachbarten Ludwigshafen die Flucht.

Der Landtag beschäftigt sich mit den flüchtigen Straftätern

Das Thema beschäftigte auch den Landtag. Auf Antrag der SPD-Fraktion wurde Ende Dezember darüber diskutiert, welche Verantwortung Justizministerin Marion Gentges (CDU) trägt. Die Fälle lägen zwar zeitlich nah beieinander, doch sonst seien sie unterschiedlich gelagert, erklärte Gentges. Es sei eine genaue Analyse der Fallsituationen nötig. Aus Sicht der Opposition hat das Land zu spät reagiert. Das Ministerium hatte einen Erlass für eine striktere Handhabung formuliert. Der Häftling wird seither zum Beispiel erst kurz vor einer Ausführung informiert.

Arnulf Freiherr von Eyb (CDU) kritisierte die SPD, sie mache ein unangemessenes Bohai. Derartige Vorfälle hielten sich in Grenzen. Auch wenn die zwei Vorfälle nicht hätten vorkommen dürfen. Seit 2006 habe es 320 000 Ausführungen gegeben – und 27 Entweichungen. „Das sind 0,001 Prozent.“ Auch Daniela Evers (Grüne) warb vor allem für eine sachliche Debatte und warnte davor, den Fehler zu machen, anhand von Einzelfällen Blitzmaßnahmen einzuführen.

Laut Justizministerium wird genau geprüft, welche Häftlinge für den offenen Vollzug geeignet sind. Daher liege die aktuelle Auslastung der landesweit 929 Haftplätze des offenen Vollzugs auch bei nur knapp 55 Prozent (Stand Dezember 2023), während 2018 die seinerzeit größere Anzahl an Haftplätzen des offenen Vollzugs noch zu rund 75 Prozent belegt war. Der geschlossene Vollzug ist zu 95 bis 100 Prozent ausgelastet.

Von 1996 bis 2001 gab es 60 Fluchten aus geschlossenem Vollzug

Schaut man weiter zurück, fällt mit Blick auf die Zahl der Entweichungen das Jahr 2016 auf: Damals gab es aus dem offenen Vollzug 16 Entweichungen, weitere sechs bei Aus- und Vorführungen und eine bei einer Außenbeschäftigung. Justizminister war Rainer Stickelberger (SPD).

Schaut man noch weiter zurück, in die 12. Legislaturperiode, gab es innerhalb von fünf Jahren insgesamt 60 Entweichungen – allerdings bezieht sich diese Zahl auf den geschlossenen Vollzug. Justizminister war damals Ulrich Goll (FDP). Zwischenzeitlich wurden die Rahmenbedingungen der Vollzugsanstalten verbessert, unter anderem auch baulich.

Mehr zum Thema: Zwei flüchtige Straftäter sorgen im Landtag für Streit | Staatsanzeiger BW

Offener Vollzug beinhaltet immer die Gefahr der Flucht

Wie das Justizministerium auf die kleine Anfrage der FDP-Fraktion mitteilt, hat sich der „vertrauensvolle Austausch zwischen Ministerium und Strafvollzugsbeauftragten der Landtagsfraktionen als Format der Information und des Austausches bewährt“. Entweichungen aus dem offenen Vollzug seien bislang kein Thema gewesen – „wohl auch und gerade vor dem Hintergrund, dass diese bekannte und akzeptierte Form des Vollzugs mit keinen oder nur verminderten Vorkehrungen gegen Entweichungen die Gefahr solcher immer mit beinhaltet“.

Jennifer Reich

Redakteurin Politik und Verwaltung

0711 66601-183

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