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Essay

Politiker auf TikTok: Die Angst vor der falschen Gefahr

Während sich die ältere Generation an Datenschutz und Hamster-Videos aufhängt, birgt die Plattform noch ganz andere Gefahren, die auch demokratischen Grundsätzen an den Kragen könnten: TikTok ist längst ein Nährboden für Rechtspopulismus, Fake News und Extremismus.

Die Plattform TikTok ist für Politiker ein Weg, junge Menschen zu erreichen. Doch die App birgt auch Gefahren.

IMAGO/Joly Victor/ABACA)

Auf der technischen Ebene wurde das Internet mit dem Ausbau der Netze in Deutschland schon verschlafen, da will die nächste Generation in der Politik nicht auch noch den inhaltlichen Anschluss verpassen. Deshalb versuchen sich immer mehr Politiker und Fraktionen auf TikTok – in Baden-Württemberg folgte jüngst Danyal Bayaz mit seinem Ministerium , was das ganze Land in Aufruhr versetzte. Das Thema wurde gewissermaßen wie der Hamster aus Bayaz‘ Mini-Videos durchs Dorf getrieben, wie kurz zuvor auch auf Bundesebene: Seit Anfang April ist der Bundeskanzler auf TikTok unterwegs. Bei Markus Lanz sitzt dann, wie bei jedem Social-Media-Thema, wieder der Blogger und Internetliebling der öffentlich-rechtlichen Sender Sascha Lobo. Der trägt zwar nach wie vor Sneakers und bunte Haare, wird aber nächstes Jahr 50. Ob er damit noch als Sprachrohr der Generationen Y und Z, die allesamt nach 1980 geboren sind, gelten kann, ist fraglich. Immerhin scheint er trotzdem die Plattform TikTok und ihre Gefahren verstanden zu haben. Während sich nämlich die Generation Ü50 große Sorgen darum macht, was der chinesische Konzern hinter der App mit ihren Daten anstellen könnte und ob Bayaz‘ Kurzvideos vielleicht peinlich sind, fallen die anderen, wahrscheinlich größeren Gefahren von TikTok aus dem Fokus. Dabei scheint der Finanzminister – übrigens Jahrgang 1983 –  einige grundlegende Spielregeln der Online-Welt verstanden zu haben. Auf der Kurzvideo-Plattform TikTok werden die Karten neu gemischt. Nicht nur die Regeln der klassischen Medien sind obsolet, selbst Social-Media-Gesetze von Instagram oder Facebook gelten nicht mehr: Nicht die Anzahl der Follower bestimmt die Reichweite, grundsätzlich kann jedes Video auf jedem Account viral gehen, also Hunderttausende oder Millionen Mal angeklickt werden. Eine besondere Rolle spielen dabei sogenannte Trends, also Formate oder Video-Arten, die dann in verschiedenen Abwandlungen umgesetzt werden. Wenn also auf dem Account des baden-württembergischen Finanzministeriums ein Hamster mit rosa Schleife und Lipgloss über einem Text erscheint, in dem an jedes Wort ein verniedlichendes „i“ gehängt wird, mag das für Nicht-TikTok-User durchaus befremdlich wirken – und das verständlicherweise. Auch andere Memes und Trends wurden vom Social-Media-Team des Finanzministeriums aufgegriffen, dafür hagelte es Kritik in den Kommentaren und Zeitungen. Bei der Hauptzielgruppe auf der Plattform, den 14- bis 29-Jährigen, kommt an, dass mit den Formaten die internationale Sprache des Internets verstanden und richtig umgesetzt wurde – auch das spiegelt sich in den Kommentaren wider. Abgesehen davon ist TikTok in den letzten Jahren im Mainstream angekommen: 2023 verzeichnete die App 20 Millionen Nutzer in Deutschland, 2020 lag diese Zahl noch bei vermutlich einem Zehntel davon.

Die Umsetzung eines TikTok-Trends, bei dem das Foto eines Hamsters eine zentrale Rolle spielt, auf dem Account des Finanzministeriums sorgte für viel Spott. Screenshots: TikTok @finanzenbw

Ob ein Ministerium bei allen Medientrends mitmachen muss, darf natürlich gerne kritisch gesehen und diskutiert werden. Mit reiner Seriosität kommt man aber ab einer gewissen Stelle, zumindest zum aktuellen Zeitpunkt, auf TikTok nicht weiter. Wer mitmischen will, muss die Plattform verstehen und richtig be- sowie mit ihr spielen können. Im Übrigen bleibt das Finanzministerium nicht auf dem Meme-Level hängen, sondern streut informative Erklärvideos zum Thema Steuern ein und schafft so den Content-Spagat, den die sozialen Medien erfordern. Das zeigt sich auch in den Zahlen: Die meisten Videos auf dem Account weisen fünf- bis sechsstellige Klickzahlen auf und immerhin 10.000 Likes wurden insgesamt gesammelt. Die Datenschutzbedenken werden mit der Nutzung eines separaten Smartphones für TikTok, das keinen Zugriff auf Daten oder E-Mails des Ministeriums hat, vom Tisch gewischt. Dieses Vorgehen ist in Ämtern und sogar vielen Unternehmen ohnehin schon Standard, so viele Daten kann die chinesische Regierung also gar nicht abgreifen, selbst wenn der TikTok-Betreiber ByteDance alles direkt weiterreichen sollte. Dass Politiker – und im Übrigen auch andere Kommunikatoren auf öffentlichen Bühnen, besonders Journalisten – auch durch andere Social-Media-Plattformen von Privatunternehmen und problematischen Konzernen abhängig sind, ist ein viel größeres strukturelles Problem, dass sich auf die Schnelle nicht lösen lässt. Viel mehr Sorgen bereiten sollte die Tatsache, dass rechtsextreme Inhalte und Falschinformationen auf TikTok aufblühen wie in einer Petrischale. In Putins Angriffskrieg wurden schon vor zwei Jahren Videospielszenen als Clips von Bombardierungen ukrainischer Städte ausgegeben. Im Januar dieses Jahres machte ein Video die Runde, in dem der Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang mithilfe von Künstlicher Intelligenz andere Worte in den Mund und sogar ein anderer Mund auf den eigenen gelegt wurde. Die Reaktionen zeigten deutlich, dass erschreckend wenigen Rezipienten nicht auffiel, dass es sich um einen Deepfake, also mit KI veränderten und gefälschten Videoinhalt handelte. Gleichzeitig werden weltweit harmlos wirkende Lifestyle-Trends von Rechten aufgegriffen und für ihre eigenen Zwecke genutzt. Dabei laufen auch deren eigene Inhalte gut, wie ein Blick vor die Haustür im Ländle zeigt: Im Gegensatz zu anderen Landtagsfraktionen hat der AfD-Account fast 25.000 Follower und mehr als 200.000 Likes. Der Landtagsabgeordnete Miguel Klauß (AfD) suhlt sich in seinen 300.000 Followern und 3,3 Millionen Likes, mit denen er sich für radikal rechte Ansichten feiern lässt. Dass die AfD die anderen Parteien abhängt, ist allerdings kein TikTok-Problem: Auch auf Instagram, Facebook und YouTube hatte die AfD im Dezember 2023 um ein Vielfaches mehr Abonnenten als und doppelt so hohe Interaktionsraten wie die anderen Parteien, wie eine Erhebung des Politikberaters Johannes Hillje ergab. Damit weiß die AfD, wie und wo sie junge Zielgruppen erreicht: Bei den 14- bis 29-Jährigen hat TikTok laut der ARD-ZDF-Onlinestudie Facebook bei der Nutzeranzahl überholt, nur Instagram liegt noch darüber. Andere Erhebungen legen nahe, dass der Nutzeranteil unter Teenagern noch deutlich höher liegt. Statt Datenschutzpanik und zur Schau gestellter Fremdscham täten daher auch die anderen Parteien gut daran, ihren eventuell etwas jüngeren Social-Media-Teams das TikTok-Handy in die Hand zu drücken. Denn nie war es für die Demokratie so wichtig wie in dem Jahr, in dem auch 16-Jährige den Europawahlschein erhalten, die Jungen da abzuholen, wo sie stehen. Und das funktioniert nun einmal auch mit einer Gratwanderung zwischen Mehrwert und Unterhaltung auf TikTok.

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