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Podiumsdiskussion zum Ukrainekrieg

Strack-Zimmermann in Tübingen über Schlagzeilen, Waffen und Zuhören

Für viel Gelächter und lockere Sprüche, aber auch Beifall und Betroffenheit sorgte Marie-Agnes Strack-Zimmermann am Donnerstag bei einer Podiumsdiskussion zum Ukrainekrieg an der Universität Tübingen. Mit mehr als 400 Zuhörenden und Mitdiskutierenden sprachen sie und der Professor für Osteuropäische Geschichte, Klaus Gestwa, über Anzeichen für Russlands Angriff, das große Thema Waffen, globale Sicherheitspolitik – und über das Zuhören.

Ihre einleitenden Worten zur Podiumsdiskussion wollte Marie-Agnes Strack-Zimmermann im Stehen an das Publikum in der Neuen Aula der Universität Tübingen richten.

Friedhelm Albrecht/Universität Tübingen)

Tübingen. Jeder Platz ist belegt, am Rand des Audimax in der Neuen Aula der Universität Tübingen versuchen noch Menschen einen Platz zu bekommen, lehnen am Geländer oder sitzen auf den Stufen. Viele Studierende sind gekommen, aber auch Mitarbeiter der Universität und ältere Semester, die das Studentenleben augenscheinlich schon länger hinter sich gelassen haben. Rechts und links neben den Rednerplätzen tragen ein paar augenscheinlich ältere Tübinger Bürger große Pappschilder, auf denen sie Diplomatie fordern oder Waffenlobbyisten an die Kriegsfront schicken wollen. Auf dem Weg in den Hörsaal vorbei an dem mit Plakaten bewaffneten Güppchen hatte sich Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestags und Spitzenkandidatin ihrer Partei bei der Europawahl, entspannt gezeigt: Die dürften ruhig so da sein, „solange sie zuhören“.

Foto: Rona Eccard

Es verspricht ein aufgeheizter Abend zu werden, zumal beide Referenten, auch der Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen Klaus Gestwa , dafür bekannt sind, im Plenar – oder Hörsaal oder im Gespräch nicht mit einem Spruch oder einer derben Formulierung hinter dem Berg zu halten. Der Historiker betont zunächst die „unerwartete Rolle, sich öffentlich einzumischen“, die er mit dem Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine erhalten habe, und verweist auf eine Empfehlung, die er zu dem Thema bekommen habe: „Du musst auf jeden Fall die Strack-Zimmermann nach Tübingen holen, das ist ’ne coole Socke, die wird die Bude rocken.“

Anfangen wollte er aber nicht, das erste Wort übergab er an die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, die zwischen Terminen in Heidelberg und Stuttgart die Einladung in Tübingen wahrgenommen hatte. Für ihre anfänglichen Worte möchte sie stehen, wendet sich in einer fast halbstündigen Rede an ihr Publikum, und wird zwischendurch gewohnt deutlich.

„Jeder hat’s gehört, keiner hat hingehört“

Strack-Zimmermann möchte den Anlass des Abends, den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, noch einmal erläutern und in einen globalen politischen Kontext einbetten. „Wir haben das ein Jahr lang kommen sehen aus der Sicherheitspolitik heraus“, das räume sie ein, Putin hätte oft und mehr als deutlich seine Absichten klargemacht, nicht erst 2014, auch schon vor fast 20 Jahren. Sie hätten dabei aber immer geglaubt, „er mache es doch nicht“.

Die Welt und vor allem Europa habe sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Frieden gewähnt, „keiner hat mehr damit gerechnet“, aber Putin führe einen imperialistischen Krieg. Angriffe, um zu annektieren, das sei die Strategie der Weltkriege. Immer wieder betont Strack-Zimmermann: „Nicht die Ukraine ist der Aggressor, es ist Russland“. Und das sei durchaus nicht ohne Vorwarnung gekommen: „Jeder hat’s gehört, keiner hat hingehört.“ Es empfehle sich also, hinzuhören.

In die gleiche Kerbe schlägt später dann der Historiker Gestwa . Auch aus der Perspektive der osteuropäischen Zeitgeschichte hätten sich Putins Absichten angedeutet, es habe nur keiner ernstgenommen. Gestwa spricht von einem eventuellen Beginn einer Ära der Revisionskriege, der Revolte gegen die Welt, die nach den 1990er Jahren in Osteuropa entstanden ist.

Das Internet als „große Chance“ und „unglaubliche Gefahr“

Dann sei man auf Cyberangriffe und hybride Kriegsführung eingestellt gewesen, und die fänden nach wie vor auch statt. Trotzdem schildert Strack-Zimmermann auch eindrücklich und mit sehr deutlichen Worten die Brutalität des Krieges abseits von virtuellen Welten, spricht von Gewalt gegen Frauen und Kinder „nicht weit von hier, mitten in Europa“ und zählt Morde und Gewalttaten auf, die man deshalb kenne, weil jemand sein Handy draufgehalten und das in Netz gestellt habe – so brutal und grausam, dass sie selbst nicht alles anschauen konnte, obwohl sie „hart im Nehmen“ sei.

„Im Netz geht echt die Luzie ab“, fasst sie auf typische Strack-Zimmermann-Art zusammen. Wir lebten in einer Zeit, die polarisiert, und das mache auch vor dem Journalismus und eigentlich seriösen Nachrichtenseiten nicht Halt. „Wenn wir uns auf TikTok-Niveau bewegen, dann können wir uns einsargen lassen.“ Die FDP-Politikerin ärgert sich über Headlines, die so dann nicht im Text stehen, und spricht von „hybriden Angriffen auf unsere Köpfe.“ Das Netz biete eine „große Chance, zu kommunizieren“, aber gleichzeitig auch eine „unglaubliche Gefahr“. Vor allem in der Corona-Zeit hätten sich viele Menschen radikalisiert.

Gewohnt deutlich und appelierte Strack-Zimmermann an mehrere Generationen im Audimax der Universität Tübingen. Foto: Friedhelm Albrecht/Universität Tübingen

Dabei geht es ihr keinesfalls um das Vermeiden von Kontroversen, sie spricht vielmehr von einem „Privileg zu streiten“ auf einer „Insel der Glückseligkeit“ der freien Meinungsäußerung: „Sie dürfen auch zu mir sagen, dass Sie mich zum Kotzen finden.“ In Moskau oder Teheran würden Menschen schon für ganz andere Dinge eingesperrt.

Gestwa erklärt, dass „russische Narrative oft hier in den Diskurs eingespeist“ würden. Er weist auf ein noch größeres Problem im Journalismus hin, manchmal frage man sich, „Sind die nur blöd oder auch bezahlt?“, und nennt das Beispiel des NDR-Journalisten Hubert Seipel, der 600.000 Euro für sein Buch erhalten habe. Es gebe schon ein paar, die auffallen, und in Historikerkreisen liefen die Wetten, wer als nächstes auffliegt, kommentiert er.

„Ich rede nicht gerne jeden Tag über Waffen“

Strack-Zimmermann geht auf die Belastung ein, die der Krieg auch für die deutsche Bevölkerung bedeute, von den Energiekosten bis zur Sorge um die Zukunft. Trotz allem gebe es aber auch eine gute Nachricht: In Europa stünden heute 27 EU-Staaten zusammen, „die sich vor 70, 80 Jahren noch bekriegt haben“, die Nato sei gewachsen. „Viele Dinge sind passiert, von denen Putin wollte, dass sie nicht passieren.“

Trotzdem könne man nicht die Hände in den Schoß legen, während der Aggressor weitermache. Wenn es um die Verteidigung der Ukraine geht, hagelt es regelmäßig Vorwürfe auf die Bundesregierung und den Verteidigungsausschuss, es würden zu viel oder zu wenig Waffen geliefert.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann (l.), Christopher Gohl vom Weltethosinstitut (m.) und Historiker Klaus Gestwa kamen schon vor der Beginn Podiumsdiskussion ins Gespräch. Foto: Friedhelm Albrecht/Universität Tübingen

Auch an diesem Abend werden einerseits Forderungen nach dem Marschflugkörper Taurus für die Ukraine laut, andererseits kramt ein Vertreter der Pappschilder-Fraktion Waffenlobbyismus-Anschuldigungen aus Strack-Zimmermanns Wikipedia-Artikel hervor, die sie entschieden zurückweist, und wie schon so oft betont, man dürfe ihr alles unter-, nur nicht ihre Integrität in Frage stellen.

Schon in ihrer Anfangsrede hatte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses betont: „Ich rede nicht gerne jeden Tag über Waffen.“  Alles, was mit Waffen und deren Export zu tun habe, sei ein „riesiges Problem“ und „hochkomplex“, erklärt sie jetzt weiter. Es könne außerdem nicht alles in gut und böse, schlecht und schön unterteilt werden, „wer das sagt, hat keine Vorstellung, wie komplex diese Welt ist“. Sie und ihre Politikkollegen seien sich aber ihrer Verantwortung sehr wohl bewusst. „Wir machen uns alle schwerst Gedanken“, versichert Strack-Zimmermann, „keiner ist ein Luftikus und ballert mal eben verbal raus“.

Warum das ‚Ja‘ vom Kanzler fehle, wisse sie nicht, aus ihrer Sicht sei die rote Linie schon am 24. Februar 2022 überschritten worden. Und: „Die Ukraine muss weiter mit allem, was wir können, unterstützt werden.“

Appell an Studierende und junge Generation

Nach ihrem anfänglichen Dank dafür, „dass auch unterschiedliche Generationen da sind“, appelliert Strack-Zimmermann immer wieder vor allem an die Jüngeren: „Sie studieren hier, Sie sind auch die Zukunft des Landes.“ Wenn sich bei der nächsten Party einer homophob, antisemitisch, ausländerfeindlich äußern sollte, mahnt sie, „stehen Sie auf“, auch wenn der Abend dann drunter leide. Damit stößt die Politikerin im vollen Audimax auf Zustimmung und wird von viel Applaus unterbrochen, anschließend verweist sie auch auf das Fach und Institut der Veranstalter des Abends: „Ein Geschichtsbuch hilft immer.“

sta

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