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Interview

Verdi-Landeschefin Maike Schollenberger: „Die Tarifverhandlungen werden keine gemähte Wiese“

Es ist ihr erstes großes Interview als Verdi-Landesvorsitzende. Die 35-Jährige sprüht, das spürt man, vor Begeisterung. Und sie hat dezidierte Ansichten, etwa zur Frage, ob eine Krankenschwester oder ein Müllmann in Zukunft bis 70 arbeiten sollte.

Verdi-Chefin Maike Schollenberger warnt: "Ein öffentlicher Dienst, der nicht mehr funktioniert, ist ein Brandbeschleuniger."

Achim Zweygarth)

Staatsanzeiger: Frau Schollenberger. Sie sind seit 5. Juli Verdi-Landesvorsitzende. Wie sind Sie in Ihrem neuen Job angekommen?

Maike Schollenberger: Wild, aber gut. Es fühlt sich sehr natürlich an. Ich war zwei Jahre lang Stellvertreterin. Da ist man schon im Geschäft. Jetzt kommen noch andere Aufgaben dazu. Veränderungen gibt es – aber auch für die Kolleginnen und Kollegen. Mein Vorgänger Martin Gross war immer sehr früh erreichbar. Ich bin eher eine Nachteule. Morgens ist so nicht meine Zeit.

Und jetzt? Ist es jetzt zu früh? (Das Interview beginnt um 10 Uhr morgens.)

Jetzt? Nein, jetzt ist es super. Alles nach neun ist okay. Und wenn wir streiken, dann kann ich auch zur Frühschicht raus. Aber wenn ich mich morgens fertig mache und schon das Telefon klingelt, dann komme ich in Stress.

Zu den Themen, die Sie erwarten: Müssen wir alle demnächst bis 70 arbeiten?

Bitte nicht! Wenn ich mir unsere Kolleginnen und Kollegen anschaue, sei es bei der Müllabfuhr, in der Krankenpflege, in der Kita oder bei der Paket- und Briefzustellung: Da kann ich mir nicht vorstellen, dass da noch jemand mit 70 agil und fit im Beruf ist. Deswegen setzen wir alles daran, eine starke politische Stimme zu sein, damit wir nicht bis 70 arbeiten müssen.

Können wir uns soziale Wohltaten wie die Rente mit 63 wirklich noch leisten?

Die Rente mit 63 ist inzwischen eine Rente mit 64 Jahren und vier Monaten. Die meisten müssen bis 67 arbeiten. Wer 45 Beitragsjahre zusammen hat, sollte meiner Ansicht nach früher in Rente gehen dürfen. Das ist mehr als verdient.

Sehen Sie nicht die Notwendigkeit, dass wir länger arbeiten, weil wir immer älter werden? Und weil die Boomer-Generation jetzt in Rente geht?

Wir müssen es schaffen, die Zahl der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler zu erhöhen. Ich habe viele Freundinnen, die in den letzten Jahren Kinder bekommen haben und sich jetzt Gedanken über einen Wiedereinstieg in den Beruf machen. Doch die Betreuungsplätze wachsen leider nicht in den Himmel. Deshalb arbeiten viele in Teilzeit, obwohl sie lieber voll arbeiten wollen – und dann natürlich auch höhere Rentenversicherungsbeiträge zahlen würden. Außerdem wäre es gut, wenn auch weitere Beschäftigtengruppen wie Selbstständige einzahlen. Das würde das Rentensystem stützen.

Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas hat vorgeschlagen, auch Beamte einzubeziehen. Der Beamtenbund sieht darin einen Angriff auf das Berufsbeamtentum. Sie auch?

Beamtinnen und Beamte sind wichtig für unseren Staat. Wir stellen das Berufsbeamtentum nicht infrage. Orientierung sind für uns die zu erledigenden hoheitlichen Aufgaben. Zumindest eine Einbeziehung der Beamtinnen und Beamten bei der Krankenversicherung befürworten wir.

Wie sehen Sie die Chancen und Risiken für KI im öffentlichen Dienst?

Ich denke, da gibt es sehr viele Einsatzmöglichkeiten, die den Arbeitsalltag unserer Kolleginnen und Kollegen erleichtern und Standardaufgaben vereinfachen können. Dadurch könnten Kapazitäten freiwerden, um zum Beispiel mit Bürgerinnen und Bürgern in Kontakt zu treten.

Das klingt sehr optimistisch.

Ich bin nicht pessimistisch. Dennoch müssen wir wachsam sein. Und da sehe ich natürlich auch die Mitglieder der Betriebsräte und Personalräte in der Verantwortung, gemeinsam mit uns kluge Lösungen zu finden, wie KI den Arbeitsalltag erleichtern kann, ohne dass sie uns arbeitslos macht. Etwa bei der Terminvereinbarung, damit nicht zig Mails hin- und hergeschrieben werden müssen.

Neue Besen kehren gut. Was wollen Sie anders machen als Martin Gross? Was können Sie besser als Ihr Vorgänger?

Natürlich sind wir unterschiedliche Menschen. Ich bin jünger. Ich bin eine Frau. Ich habe einen anderen Blick und werde manchmal auch andere Antworten finden. Martin Gross mit seiner Klugheit und enormen Erfahrung wird mir fehlen, wenn er im November in Rente geht. Er hat wirklich einen guten Job für Verdi gemacht.

Der Verdi-Landesbezirk wird wieder von einer Frau geführt. Und dies nun zum dritten Mal seit Gründung Ihrer Gewerkschaft im Jahr 2001: Vor Ihnen standen Sybille Stamm und Leni Breymaier an der Spitze. Erst dann folgte mit Martin Gross der erste und bisher einzige Mann. Haben es Frauen bei Verdi leicht, nach oben zu kommen?

Vielleicht haben es Frauen bei uns einfacher als anderswo, aber trotzdem muss auch bei uns eine Frau etwas können, wenn sie Verantwortung übernehmen will. Wir finden, dass Frauen genauso in Führungspositionen gehören wie Männer.

Bei den anderen DGB-Gewerkschaften ist der Frauenanteil nicht so groß.

Was auch daran liegt, dass Verdi besonders viele Frauen als Mitglieder hat, nämlich über 50 Prozent.

Muss denn der Bundesvorsitzende immer Frank heißen? (Anmerkung: Derzeit wird Verdi von Frank Werneke geleitet. Sein Vorgänger war Frank Bsirske.)

In unserer Satzung steht das nicht. Aber im Ernst: Vielleicht kommt danach eine Franka.

Oder eine Maike?

Im Moment habe ich noch nicht einmal mein neues Büro bezogen. Und vor mir liegen jede Menge interessante Aufgaben, vor denen ich großen Respekt habe. Mein Fokus heißt Verdi Baden-Württemberg, der füllt mich mehr als aus.

Verdi ist eine Art Gemischtwarenladen. Können Sie einem Freund oder einer Freundin guten Gewissens raten, Verdi-Mitglied zu werden, wenn es eine passgenauere Konkurrenzgewerkschaft gibt?

Am wichtigsten ist meiner Ansicht nach, dass Menschen sich überhaupt in Gewerkschaften organisieren. Wer im Arbeitsleben steht und möchte, dass sich die Bedingungen verbessern, wird schnell feststellen, dass er oder sie das am besten in einer Gewerkschaft macht. Verdi ist eine große, solidarische Gemeinschaft, die sich auf rund zwei Millionen Mitglieder stützt. Die Größe gibt uns Bedeutung und Einfluss, die ein Berufsverband oder eine kleinere Gewerkschaft niemals hätte. Wir scheuen keinen Konflikt. Deswegen würde ich sagen, dass wir eine sehr gute Anlaufstelle sind.

Im Dezember startet die nächste Tarifrunde im öffentlichen Dienst, dann geht es um den Tarifvertrag der Länder (TV-L). Wie ist die Stimmung?

Wir haben die TVöD-Tarifrunde noch im Hinterkopf (Anm. d. Red.: Der TVöD-Abschluss, der für Bund und Kommunen gilt, erfolgte am 6. April.) Das war kein leichtes Spiel. Beim TV-L wird es bestimmt nicht einfacher. In der Politik spitzt es sich von Woche zu Woche zu. Das ist keine gemähte Wiese, wo wir einfach sagen, da bekommen wir jetzt das Gleiche wie im TVöD. Wir werden hart kämpfen müssen.

Geht es diesmal in erster Linie ums Gehalt, oder werden andere Forderungen im Mittelpunkt stehen?

Für eine abschließende Aussage ist es noch zu früh. Doch mein Eindruck ist, dass es hauptsächlich um eine monetäre Forderung gehen wird. Die Arbeitszeit-Themen sind nicht vom Tisch. Aber den Kolleginnen und Kollegen ist aktuell vor allen Dingen der Verdienst wichtig.

In Zeiten wie diesen ist ein sicherer Job im öffentlichen Dienst Gold wert. Muss man das nicht auch einpreisen, wenn es um die Tarifforderung geht?

Im aktuellen Fachkräftemangel im öffentlichen Dienst ist Arbeitsplatz-Sicherheit kein großes Argument mehr. Die Beschäftigten wissen genau, dass sie dringend gebraucht werden. Dass die Kolleginnen und Kollegen selbstbewusst Forderungen stellen, kommt ja nicht von ungefähr. Die Arbeitsbelastung ist hoch, und es ist immer schwieriger, sich die Dinge zu leisten, die man braucht.

Die Gewalt im öffentlichen Dienst nimmt zu. Was können Sie dagegen tun?

Wir sind als Gewerkschaft eine große Solidargemeinschaft. Bei uns kann ein breites Bewusstsein dafür wachsen, dass die Kollegin, die im Krankenhaus arbeitet, einen tollen Job macht und dass auch der Busfahrer einen tollen Job macht und die Kolleginnen und Kollegen von der Müllabfuhr ebenso. Wir können da als Gewerkschaft ein Ort sein, von dem die Botschaft nach außen getragen wird, dass wir respektvoll miteinander umgehen, dass wir alle ein wertvoller Teil dieser Gesellschaft sind, dass es auf jede und jeden ankommt.

Reicht das richtige Bewusstsein aus?

Nein. Gleichzeitig müssen die Arbeitgeber dafür sorgen, dass es mehr Personal gibt, denn die Stimmung ist entspannter, wenn die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass die öffentliche Verwaltung funktioniert. Ein öffentlicher Dienst, der nicht mehr funktioniert, ist ein Brandbeschleuniger für Frust und Wut der Bürgerinnen und Bürger. Es braucht Investitionen in Prävention und Schulungen. Es ist ja gut, wenn die Kolleginnen und Kollegen im kommunalen Ordnungsdienst jetzt Bodycams bekommen. Dann kann im Nachhinein nachvollzogen werden, wer sie wann und wie angegriffen hat. Doch besser wäre doch, wenn so etwas gar nicht erst passiert.

Das Gespräch führte Michael Schwarz

Zur Person

Sie ist – typisch – eine Frau, denn bislang standen hauptsächlich Frauen an der Spitze des Verdi-Landesbezirks Baden-Württemberg. Sie ist – untypisch – jung, denn die jüngste ihrer Vorgängerinnen war bei Amtsbeginn zwölf Jahre älter. Maike Schollenberger wurde 1990 geboren, ging in Markgröningen zur Realschule, ließ sich bei der Post zur Kauffrau ausbilden, trug Briefe aus und wechselte mit 24 Jahren zu Verdi, wo sie eine zweite Ausbildung als Gewerkschaftssekretärin absolvierte. Von 2023 an war sie stellvertretende Bezirksleiterin. Am 5. Juli wurde sie zur Nachfolgerin von Martin Gross gewählt.

Maike Schollenberger, die seit 5. Juli den Verdi-Landesbezirk Baden-Württemberg führt, im Gespräch mit Staatsanzeiger-Politikredakteur Michael Schwarz. Fotos: Achim Zweygarth
Achim Zweygarth)

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