Vor dem Abschied: Kretschmann über Erfolge, Fehler und Stuttgart 21

Winfried Kretschmann während des Interviews im Staatsministerium: Der Ministerpräsident spricht über 15 Jahre im Amt, sein Politikverständnis und Stuttgart 21.
Achim Zweygarth)Staatsanzeiger: Herr Kretschmann, wenn Ihnen 2011 jemand prophezeit hätte, dass Sie 15 Jahre lang Ministerpräsident werden, hätten Sie das geglaubt?
Winfried Kretschmann: Nein.
Können Sie es heute glauben?
Es ist eine Tatsache. Meine erste Wahl wurde stark durch externe Ereignisse beeinflusst – Fukushima, Stuttgart 21. Außerdem war mein Gegenkandidat bis hinein in CDU-Kreise höchst unbeliebt. Sonst wäre ich wahrscheinlich nicht Ministerpräsident geworden. Dass ich anschließend zwei Mal wiedergewählt wurde, darf ich mir aber auch selber zuschreiben. Das erfüllt mich mit einer gewissen Genugtuung.
Haben Sie so etwas wie ein Vermächtnis? Was wird eines Tages in den Geschichtsbüchern über Sie zu lesen sein?
Ich bin kein Prophet. Ich denke jedoch, dass es mir gelungen ist, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Aus dem Streit um Stuttgart 21 ist die Politik des Gehörtwerdens entstanden. Mit dem Volksentscheid, den wir als Regierung selbst eingeleitet haben, haben wir eine Entscheidung herbeigeführt und zugleich das Land befriedet. Auch wenn sich alle Befürchtungen, die die Projektgegner, zu denen ich gehörte, bewahrheitet haben.
Stuttgart 21 ist so etwas wie Ihr Schicksalsthema. Das Bahnprojekt ist immer noch nicht fertig.
Es ist wirklich extrem misslich, dass der Bau so lange gedauert hat. Persönlich bin ich aber ganz froh, dass ich die Eröffnungsrede nicht halten muss. Das wäre eine sehr ungewöhnliche Rede geworden. Ich hätte das Kunststück vollbringen müssen, das Werk zu preisen und zugleich mit der Kritik nicht hinterm Berg zu halten.
Nicht nur bei Stuttgart 21, auch bei der Frage, ob das Gymnasium acht oder neun Jahre dauern soll, haben Sie eine Niederlage erlitten. Hadern Sie mit der Entscheidung, dem Volk so viel Einfluss gewährt zu haben?
Nein. Nach der Entscheidung zu Stuttgart 21 habe ich keine Sekunde gezögert, sie zu akzeptieren, was viele meiner damaligen Anhänger bis heute nicht begriffen haben. Doch das ist der Preis. Man kann nicht für direkte Demokratie sein und denken, es geht immer so aus, wie man es gerne hätte. Allerdings sehe ich auch die Schwächen.
Deswegen setzen Sie auch auf Bürgerräte beziehungsweise Bürgerforen, die aus zufällig ausgewählten Bürgern bestehen.
Damit beteiligen wir die Bürger, ohne die repräsentative Demokratie im Kern zu verändern. Es geht darum, dass der Bürger mitreden kann. Das ist uns gut gelungen. Eine aktuelle Untersuchung der Uni Hohenheim zeigt, dass die Menschen in Baden-Württemberg signifikant zufriedener mit der Demokratie sind als anderswo. Das ist ein Baustein für den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Trotzdem legen die Rechtspopulisten in Umfragen zu. Ist die Botschaft bei Ihren Wählern nicht angekommen?
Das ist ein weltweiter Trend, der sich nicht so einfach stoppen lässt und zahlreiche Gründe hat. Mir geht es darum, die demokratischen Kohorten der Bevölkerung zu stärken. Das ist, glaube ich, gut gelungen.
Sie haben zu Beginn Ihrer Amtszeit einmal gesagt: „Weniger Autos sind besser als mehr.“ Stehen Sie noch dazu?
Man kann nicht mit Überschriften regieren. Und dennoch denke ich, dass jeder, der im Stau steht, meinen damaligen Satz unterschreiben kann. Ich habe aber auch gesagt, dass der Ministerpräsident nicht bestimmt, wie viele Autos es auf der Welt gibt. Es kommt auf eine intelligente Vernetzung an.
Wie würden Sie heute, in dieser für die Wirtschaftsbranche so schwierigen Phase, Ihr Verhältnis zum Automobil beschreiben?
Die Automobilindustrie ist ein tragender Wirtschaftszweig für Wertschöpfung und Arbeitsplätze, auch für viele andere Branchen wie den Maschinenbau. Darum ist es extrem wichtig, sich darum zu kümmern. Deshalb habe ich vor acht Jahren den Strategiedialog Automobilwirtschaft gegründet, der alle Akteure verbindet und sich mit dem Wandel in der Branche beschäftigt. Das Auto wird quasi noch einmal neu erfunden – in einer geopolitisch schwierigen Lage. Die Chinesen haben uns technologisch teilweise überholt, wir haben dramatische Einbrüche bei den Verkaufszahlen, dazu kommen Trumps Zölle und der fortschreitende Klimawandel. Wie bekommen wir den Verkehrssektor klimaneutral aufgestellt? Das ist die Gemengelage. Wir müssen sehen, wie wir uns wieder nach vorne arbeiten und die Dinge angehen, die wir selbst in der Hand haben wie die Bürokratie, die hohen Lohnnebenkosten oder die Energiepreise.
Warum setzen Sie sich dafür ein, das Verbrenner-Aus über 2035 hinaus zu verschieben?
Entscheidend ist, dass wir nicht am Ziel der Klimaneutralität rütteln. Da sind sich alle einig. Aber wir dürfen unsere Industrie nicht noch weiter in Schwierigkeiten bringen. Es geht darum, Übergangstechnologien wie Hybridmotoren und Biokraftstoffe zu nutzen. Elektromobilität ist der Hauptweg, das ist Konsens bei Unternehmen, Gewerkschaften und Politik. Doch wir müssen um die Technologieführerschaft ringen.
Wie können wir das schaffen?
Indem wir wieder so was wie das Airbus-Projekt auf die Beine stellen. Mit dem Flugzeug, an dem viele Europäer mitbauen, haben wir die Konkurrenz nicht nur eingeholt, sondern überholt. So etwas muss uns auch beim Auto gelingen. Das ist viel entscheidender als die Frage, wann das Verbrenner-Aus kommt. Es geht um Rohstoffe, um Recycling, um die Produktion von Batteriezellen und Chips. Da müssen wir die Abhängigkeit von China vermindern. Und das kann nur Europa insgesamt schaffen, kein Nationalstaat allein. Auch große Konzerne können das nicht wuppen. Die EU muss in den nächsten Jahren mehr Geld darein stecken.
Der Ruhestand naht. Sie können sich vorstellen, Kirchenführer in Oberschwaben zu werden, wie Sie in einer jüngst erschienenen Biografie verraten. Ist das schon amtlich?
Nein. Wenn man sich zu früh damit beschäftigt, nimmt die mentale Präsenz ab. Das ist gefährlich, denn wir sind in extrem herausfordernden Zeiten, etwa die gerade besprochene Lage in der Automobilindustrie. Da kann man nichts auslaufen lassen. Ich war gerade in Brüssel und habe hart für unsere Industrie und unseren Standort geworben. Man ist da sehr gefordert und muss exzellent vorbereitet sein. Darum darf man sich nicht groß mit dem Danach beschäftigen – das schwächt mental.
Fällt es Ihnen schwer, loszulassen?
Nein.
Fürchten Sie, in ein Loch zu fallen?
Nein, absolut nicht. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies nicht passieren wird. Natürlich frage ich mich, was ich dann mache. Ich weiß es noch nicht. Was ich mir gut vorstellen könnte – ich war ja Lehrer – ist, in Schulen zu gehen und mit jungen Menschen über Demokratie zu reden. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir uns als Gesellschaft nicht immer bewusst sind, was Demokratie wirklich bedeutet, dass ihre Grundlage die Verfassung ist, und dass es sich um einen Aushandlungsprozess zwischen Verschiedenen handelt, die gleiche Rechte haben.
Sie haben als Ministerpräsident viele bedeutende Persönlichkeiten getroffen. Wer hat Sie besonders beeindruckt?
Henry Kissinger. Der ehemalige US-Außenminister war hier, und das Einzige, was ihn interessiert hat, war: Wie kann es sein, dass ausgerechnet in einer Industrieregion wie Baden-Württemberg, die politisch konservativ geprägt ist, ein grüner Ministerpräsident regiert? Kissinger war eine machtvolle Persönlichkeit, und dann fragt er mich so etwas. Das hat mich beeindruckt und gezeigt, was für ein fluider Kopf er war – neugierig bis zum Schluss.
Papst Benedikt war auch da.
Und wissen Sie, wonach er mich gefragt hat? Nach Stuttgart 21. Nicht etwa, weil er sich für unterirdische Bahnhöfe interessierte oder die Frage, ob Stuttgart einen Kopfbahnhof oder einen Durchgangsbahnhof braucht. Er wollte wissen, wieso das zu einem Konflikt führt.
Sie sind der erste und bislang einzige grüne Ministerpräsident. Haben Sie Sorge, dass das eine Episode bleibt?
Ich denke nicht, dass ich der letzte grüne Ministerpräsident sein werde. Dafür ist die grüne Idee zu stark. Aber jede Regierungszeit ist eine Episode. Das ist der Charme der Demokratie – Gott sei Dank. Es ist normal, dass andere kommen, und dass ich wieder ein ganz gewöhnlicher Bürger bin, ist auch normal.
Sie haben damit kein Problem?
Ich freue mich darauf. So ein Amt ist kräftezehrend und nimmt einen sehr in Anspruch. Es ist eine Anstrengung, sich davon zu befreien. Auch beim Wandern mit meiner Frau habe ich trotzdem noch Politik im Kopf. Es gibt auch Dinge, die ich vermisse – etwa anspruchsvolle Bücher zu lesen, für die man den Kopf frei haben muss. Ich lese gerade ein Buch von Volker Gerhardt über den Sinn des Sinnes und merke, wie schwierig das ist, wenn man nur zwischendurch liest. Ich freue mich darauf, wieder mehr Muße zu haben.
Es gibt ja den Spruch „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau“. Trifft das auch bei Ihnen zu?
Die Formulierung würde meine Frau strikt ablehnen. Sie empfindet sich nicht als mein Schatten. Sie war 15 Jahre kommunalpolitisch aktiv im Gemeinderat und im Kreistag von Sigmaringen und hat ein eigenständiges politisches Leben geführt. Als ich Ministerpräsident wurde, war sie bereits pensioniert. Sie engagiert sich eigenständig in vielen Projekten. Wir waren immer ein Team, auch politisch, wenn auch auf verschiedenen Ebenen, und hatten immer einen hohen Konsens, auch in politischen Fragen. Wir sind beide in der Wolle gefärbte Grüne, wissen aber auch, dass Politik eine ungemein pragmatische Veranstaltung ist.
Bringt Sie Ihre Frau manchmal auf politische Ideen, die Sie sonst nicht hätten?
Selbstverständlich diskutiere ich mit meiner Frau jede Woche über politische Fragen. Aber sie ist keine heimliche Beraterin. Die Berater habe ich bei mir im Ministerium, in meinem Kabinett und in vielen weiteren Experten aus den unterschiedlichen Bereichen.
Die aber die Wochenenden mit der Familie nicht ersetzen.
Genau. Es gibt eine Emotionalität der Politik – man muss gelassen und klar bleiben. Da komme ich gestärkt aus dem Wochenende zurück. Insofern ist meine Frau eine sehr große Stütze, um Abstand zu gewinnen. Aber ich mache am Wochenende – wenn möglich – nicht auch noch Politik, sondern etwas anderes. Ich versuche, Politik aus einem breiten Horizont zu machen, nicht nur aus einer politischen Kraftmeierei heraus.
Wie sehr hat es Sie geprägt, aus einer Flüchtlingsfamilie aus dem Ermland zu stammen, einer katholischen Insel im ansonsten protestantischen Ostpreußen?
Wenig. Ich bin hier geboren, war der Erste in meiner Familie, der schwäbisch gesprochen hat. Die Erfahrung als Flüchtlingskind habe ich nicht gemacht. Mein Vater war nach dem Krieg Lehrer in einem kleinen schwäbischen Dorf und damit eine Respektsperson. Über die Flucht wurde wenig gesprochen, das habe ich erst spät von meinen Geschwistern erfahren. Mein Vater wollte, dass wir uns integrieren und nach vorne schauen.
Sie sind ein großer Fan der jüdisch-amerikanischen Philosophin Hannah Arendt. Hat der junge Winfried Kretschmann beim Kommunistischen Bund Westdeutschland auch schon so gedacht?
Im Gegenteil. Hannah Arendt hat mich aus dieser Sackgasse befreit. Ihre Ideen haben mir geholfen, diese Sekte zu verlassen.
Wie sind Sie in diese, wie Sie es nennen, kommunistische Sekte gekommen?
Das war die Zeit der Achtundsechziger. Ich kam aus einem liberalen katholischen Elternhaus, aber aus einem sehr autoritären katholischen Internat, in dem ich sieben Jahre meiner Jugend verbracht habe. Die antiautoritären Achtundsechziger haben mich wie ein Magnet angezogen. Nach den üblen Erfahrungen im Internat war das wie ein Freiheitsrausch. Erst später sind manche in linksradikalen Sekten oder sogar in gewalttätigen Gruppen wie der RAF gelandet – davon war ich immer weit weg. Das Antiautoritäre war, was diese Bewegung so kraftvoll gemacht hat.
Sie halten Journalisten Konfliktorientierung, Defizitorientierung und Fehlerorientierung vor. Als Sie noch in der Opposition waren, fanden Sie das gut.
In der Opposition muss man Fehler und Defizite benennen. Kritischer Journalismus ist jedoch nicht Opposition. Kritischer Journalismus heißt abwägen, Argumente prüfen und dann zu einem Urteil kommen. Was mich stört, ist ein zunehmender Oppositionsreflex. Die Leute erfahren oft gar nicht mehr, was wir tun, wenn dies ohne Konflikt geschieht.
So etwas ärgert Sie.
Wenn immer nur über Fehler berichtet wird, verstärkt das den Eindruck, dass bei uns nichts funktioniert. Das passt dann in die Systemkritik, die von den extremistischen Kräften kommt. Die Aufgabe der Presse besteht natürlich darin, die Dinge kritisch zu prüfen, aber nicht darin, ausschließlich über Konflikte zu berichten, die zum Teil noch nicht einmal welche sind, sondern ganz normale Aushandlungsprozesse in einer Demokratie.
Am 8. März wird ein neuer Landtag gewählt. Einer der Spitzenkandidaten, Cem Özdemir, ist Ihnen eng verbunden. Wie sehen Sie das Rennen?
Die Umfragen verbessern sich gerade leicht für uns, verschlechtern sich aber für den Koalitionspartner. Beunruhigend ist der weitere Anstieg der AfD. 2015 lagen wir um diese Zeit auch schon deutlich hinter der CDU, haben aber aufgeholt. Man weiß, wie schnell sich Stimmungen drehen können. Von solchen Momentaufnahmen darf man sich nicht kirre machen lassen, sondern muss mit Selbstbewusstsein und Überzeugung den eigenen Weg gehen.
Auf die Entwicklung der Grünen im Bund sehen Sie aber mit Schrecken.
Nein. Dazu bin ich zu lange in der Partei, die ich selbst mitgegründet habe. Die Konflikte mit der Bundespartei sind nichts Neues. Die Grünen in Baden-Württemberg haben immer anders getickt als die in Berlin.
Das Gespräch führten Rafael Binkowski und Michael Schwarz
Kretschmanns Rekorde
Den bundesweiten Rekordhalter, was die Dauer der Amtszeit angeht, wird er nicht mehr einholen. Peter Altmeier (CDU) regierte 22 Jahre lang Rheinland-Pfalz. Doch mit demnächst 15 Jahren ist Winfried Kretschmann (Grüne) der dienstälteste Ministerpräsident Baden-Württembergs. Seinen Vorvorvorgänger Erwin Teufel (CDU) überholte der 77-Jährige im August.
Dies ist besonders erstaunlich, wenn man sich vor Augen führt, dass alle seine Vorgänger bei Amtsantritt jünger waren. Und dass selbst am Ende ihrer Amtszeit nur vier der acht Ministerpräsidenten so alt waren wie Kretschmann am Anfang.
Ein anderer Rekord ist dagegen außer Reichweite. Konrad Adenauer (CDU) war 87 Jahre alt, als er 1963 zurücktrat. Allerdings hatte seine Kanzlerschaft erst mit 73 begonnen, so dass er es „nur“ auf 14 Jahre brachte.