Interview: Evelyne Gebhardt

„Wer Europa kaputt macht, darf nicht an die Macht“

Evelyne Gebhardt trägt Europa im Herzen: Die gebürtige Französin aus Schwäbisch Hall saß 28 Jahre lang für die SPD im Europaparlament. Nun steht sie der Europa-Union im Südwesten vor, einer überparteilichen Vereinigung, die sich seit 1946 dem europäischen Gedanken verschrieben hat. Warum sie das tut, erklärt sie den Staatsanzeiger-Redakteuren Rafael Binkowski und Michael Schwarz.

Die Sozialdemokratin Evelyne Gebhardt gehörte 28 Jahre lang, von 1994 bis 2022, dem Europaparlament an. Von 2017 bis 2019 war sie dessen stellvertretende Präsidentin.

Achim Zweygarth)
Staatsanzeiger: Sie sind vor zwei Jahren aus dem Europaparlament ausgeschieden. Was hat sich für Sie am meisten verändert?

Evelyne Gebhardt: Ich reise nicht mehr so oft zwischen Brüssel, Straßburg und Schwäbisch Hall. Ich habe die Kontrolle über meinen Terminkalender zurück. Und ich habe endlich mehr Zeit für meine Freunde und meine Familie, was ich sehr genieße.

Seit 2013 sind Sie Landesvorsitzende der Europa-Union. Wie oft mussten Sie seither erklären, dass Sie nicht in die CDU eingetreten sind?

Anfangs haben mich die Leute aus meiner Partei tatsächlich gefragt: Was machst du in diesem konservativen Verband? Da habe ich geantwortet: Moment, das ist kein CDU-Verband, Die Europa-Union ist überparteilich und legt großen Wert darauf. Es war aber auch an der Zeit, dass eine Sozialdemokratin das Amt übernahm, nachdem jahrzehntelang nur Christdemokraten an der Spitze der Europa-Union standen.

Am 9. Juni ist Europawahl. Warum ist diese Wahl so wichtig?

Weil es Parteien gibt, die unser Europa kaputt machen wollen. Die AfD fordert die Abschaffung des Europaparlaments. Wer so etwas will, darf nicht an die Macht kommen.

Wer ist aus Ihrer Sicht gefährlicher? Die AfD, Marine Le Pen oder Giorgia Meloni?

Die sind alle gleich. Sie eint, dass sie den Nationalismus und die Spaltung der Gesellschaft voranbringen. Das ist genau das Gegenteil des europäischen Gedankens. Wenn Frau Le Pen jetzt auf Distanz zur AfD geht, hat dies nur taktische Gründe. Man muss nur ihre Reden anhören oder ihr Programm lesen. Sie ist nicht besser als die AfD.

Die Rechten propagieren ein Europa der Nationen. Was haben Sie dagegen?

Ein Europa der Nationen ist genau das Gegenteil dessen, was wir brauchen. Wir müssen dafür sorgen, dass Europa sich weiterentwickelt – hin zu einem Europa der Bürger. Wir brauchen einen Konvent, in dem die Funktionsfähigkeit der Europäischen Union verbessert wird. Das Einstimmigkeitsprinzip muss durchbrochen werden. Wir brauchen eine bessere Sozialpolitik und eine bessere Wirtschaftspolitik. Wir brauchen eine Vertiefung der Europäischen Union, und das heißt eben auch mehr Bürgerrechte und auch mehr Entscheidungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene.

Sie waren von 1994 bis 2022 im Europaparlament. Was hat sich verändert?

Als ich angefangen habe, gab es nur wenige Gesetze, über die wir entscheiden beziehungsweise mitentscheiden konnten. Das Parlament ist immer größer geworden, weil neue Staaten der EU beigetreten sind. Immer mehr Kulturen und Tradition galt es zu berücksichtigen. Die Arbeit erfordert daher noch mehr Fingerspitzengefühl als in der Vergangenheit.

Erstmals seit einem halben Jahrhundert steht wieder jemand aus Deutschland an der Spitze von Europa. Wie beurteilen Sie Ursula von der Leyen?

Frau von der Leyen hält viele schöne Reden und verspricht sehr viel. Leider löst sich ihre Versprechen nur selten ein. Außerdem hat sie den Fehler gemacht, sich dem Präsidenten des Europäischen Rats unterzuordnen. Deutlich wurde das beispielsweise bei der Reise zu Erdogan. Das hätte sich Jacques Delors nicht bieten lassen.

Zu seiner Zeit war die Rollen in Brüssel anders verteilt.

Genau. Damals bildeten Kommission und Parlament noch eine Einheit gegen den Rat, der die nationalen Interessen vertrat. Das hat sich geändert, als der Rat damit begann, Leute aus den eigenen Reihen in die Kommission zu wählen, Barroso zum Beispiel. Das führte dazu, dass die Interessen der Kommission immer stärker in Richtung Rat gingen.

Ursula von der Leyen kandidiert erneut für das Amt der Kommissionspräsidentin. Wie gut sind ihre Chancen, wiedergewählt zu werden?

Das wird auf jeden Fall kein Selbstläufer. Im Parlament hat sie das letzte Mal nur wenige Stimmen mehr bekommen, als sie brauchte.

Deutschland und Frankreich bildeten einmal die Achse Europas. Seit einiger Zeit stottert sie. Zwischen Olaf Scholz und Emmanuel Macron scheint es nicht zu laufen. An wem liegt es?

Politiker sind auch nur Menschen. Mit manchen kann man gut, mit anderen weniger. Letzteres scheint leider für Scholz und Macron zu gelten. Macron ist aber auch geschädigt von Frau Merkel. Sie erinnern sich an die vielen Angebote, die Rede an der Sorbonne, die Rede zum Karlspreis, in denen er Vorschläge gemacht hat und wo von deutscher Seite keine Antwort gekommen ist? Ich habe mich damals so geschämt. So etwas geht einfach nicht! Ich weiß, dass Macron eigentlich ein Freund Deutschlands ist. All dies muss für ihn eine große Enttäuschung gewesen sein. Dass er dann irgendwann keine große Lust mehr hatte, kann ich verstehen.

Helmut Kohl war wohl der letzte deutsche Kanzler, der für Europa brannte.

Es gab auf jeden Fall keinen mehr, der dieses Gefühl von Europa in sich trug, wie es Kohl, aber auch Willy Brandt verkörperten. Das ist auch eine Generationenfrage. Menschen, die heute in der Mitte ihres Lebens stehen, kennen nicht mehr die Zeiten, da es mitten in Europa Grenzen gab. Ich bin als junge Frau mit dem Zug zwischen Stuttgart und Paris gependelt. Da hielt der Zug in Kehl immer eine Stunde. Erst kontrollierten die deutschen Polizisten die Pässe, dann die Franzosen.

Europa ist ja als Friedensprojekt entstanden. Ist davon noch etwas zu spüren?

Ja. Gerade wieder. Ich merke das bei jungen Leuten. Der Krieg in der Ukraine führt dazu, dass das Thema an Bedeutung gewinnt.

Sie mussten sich am Anfang Ihrer Karriere gegen einen Mann durchsetzen – den ehemaligen SPD-Landesvorsitzenden Uli Maurer. Am Ende hat man noch versucht, Ihnen eine Frau vor die Nase zu setzen. Was war schwieriger?

Ein großer, starker Mann, eine kleine zierliche Frau: Der Anfang war deutlich schwieriger. Das hat Nerven gekostet. Zudem habe ich auf dem Nominierungsparteitag die schlechteste Rede meines Lebens gehalten…

…aber ein Superergebnis bekommen.

Ja, zum Glück. Aber Glück gehört zur Politik dazu. Außerdem haben meine Arbeit und mein Engagement für den europäischen Gedanken überzeugt.

Gegen Luisa Boos, die Andrea Nahles 2018 ins Spiel gebracht hatte, um mehr junge Frauen ins Europaparlament zu bringen, war es dann einfacher.

Ja. Es gibt immer Konkurrenz und es steht jedem offen zu kandidieren. Es gibt auch keine Erbhöfe. Ich habe mich mit Hinweis auf meine Erfahrung gewehrt und konnte mich letztlich durchsetzen.

Haben es Frauen in der Politik schwerer als Männer?

Auf jeden Fall. Das habe ich die ganzen Jahrzehnte hindurch miterleben müssen. Eine Frau muss stärker sein, muss noch mehr aufpassen, muss noch mehr tun, um sich durchzusetzen. Das wird leicht vergessen.

Sie haben viele Persönlichkeiten kennengelernt. Wer hat Sie beeindruckt?

Besonders Jacques Delors. Und Willy Brandt. Er war ja mit der Grund dafür, dass ich in die SPD eingetreten bin. Und François Mitterrand, der sich nie zu schade war, auch mit einfachen Abgeordneten zu reden.

Sie haben drei Sozialisten und Sozialdemokraten genannt. Hat die Sozialdemokratie in Europa noch eine Zukunft?

Ja, auch wenn der Druck erheblich ist. Man hat die Sozialdemokratie ja schon mehrfach für tot erklärt. Es gibt immer mal wieder Aufs und Abs, aber wir haben noch viel vor und werden auch noch vieles durchsetzen. Deshalb bin ich zuversichtlich – wie im Übrigen auch, was Europa angeht.

Evelyne Gebhardt, hier im Gespräch mit Politikredakteur Michael Schwarz (Mitte) und Chefredakteur Rafael Binkowski, ist seit 2013 Landesvorsitzende der Europa-Union, einer parteiunabhängigen pro-europäischen Vereinigung mit 3100 Mitgliedern im Südwesten. Foto: Achim Zweygarth
Michael Schwarz

Redakteur Politik und Verwaltung

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