Barbara Bosch: „Wir haben die Instrumente schon in der Hand“

Barbara Bosch, der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, zu Besuch in Paris.
Staatsministerium)Paris. Es ist kalt trotz Sonne und azurblauem Himmel. An Straßenecken, in Gebäudenischen oder zwischen Büschen liegen Menschen. Sie prägen nicht das Stadtbild zwischen Louvre und Notre Dame, zwischen Rathaus und Trocadéro, aber sie sind unübersehbar: viele dick eingemummt, manche in kleinen Zelten, andere sitzen apathisch in Plastiklatschen an einer Straßenecke. Paris gilt als Europas Hauptstadt der Obdachlosigkeit.
Der vor vier Jahren eingerichtete Bürgerrat aus 100 zufällig zusammengebrachten Interessierten hat sich monatelang mit dem komplizierten Thema befasst und am Ende konkrete Empfehlungen verfasst. Die Zufriedenheit war groß, als das Stadtparlament mit seiner links-grünen Mehrheit zum ersten Mal überhaupt einen Antrag und damit 20 Ratschläge aus der Zivilgesellschaft annahm.
Die Gastgeber im Rathaus sind voll des Lobes für ihren „ständigen Dialog mit der Bürgerschaft“ – bis der mitgereiste Vertreter des Landkreistags nach der Verankerung von Finanzierung und Verantwortlichkeiten verlangt. Die Antworten bleiben unverbindlich, die Informationen sind dürftig. Im direkten Gespräch kurz vor der Verabschiedung wird ein Grund offenbar: Wichtige Zuständigkeiten liegen gar nicht in kommunaler Hand. So ist für die geforderte Einrichtung von 3000 zusätzlichen Plätzen in Notunterkünften nicht die Stadt zuständig, sondern der Zentralstaat. Wie so oft in Frankreich. „Potenziale von unten“, sagt einer der Gesprächspartner, müssten eben noch besser entwickelt werden.
Die Delegation aus Baden-Württemberg, angeführt von Barbara Bosch, der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung im dritten Kabinett von Winfried Kretschmann, ist angereist, weil bei den Nachbarn sogar ganz große Fragen bei Zufallsforen oder Konventen bearbeitet werden. Ein sogenannter Grand Débat hat schon vor sechs Jahren stattgefunden. Und Sterbebegleitung wäre, angestoßen durch die Zivilgesellschaft, sogar bereits per Gesetz neu geregelt, hätte Präsident Emmanuel Macron die Nationalversammlung im Sommer nicht aufgelöst. Unter anderem sollte Hilfe zum Suizid unter bestimmten Voraussetzungen legalisiert werden. Jetzt hängt die Entscheidung fest, weil die Regierung im Parlament keine Mehrheit hat.
Die Unterschiede zwischen deutschen und französischen Zuständen kommen schnell zur Sprache. Beim Empfang durch den deutschen Botschafter Stephan Steinlein berichten baden-württembergische Beteiligungsfachleute, wie daheim schon mit vierstelligen Euro-Beträgen Verfahren vor Ort angestoßen und unterstützt werden können und wie sogar Einzelpersonen und vor allem Kommunen aktiv werden können. Jenseits des Rheins hingegen hat der Rat zur Sterbebegleitung zwischen vier und fünf Millionen Euro gekostet. Unter anderem, weil ein privater Dienstleister 300.000 (!) Telefonate führte, bis schlussendlich 185 Teilnehmende ausgewählt waren.
„Ich will nicht bewerten, ich bin analytisch“, drängt es Bosch schon nach den ersten Gesprächen zu einer Zwischenbilanz, „und so sehr dankbar, dass wir unser föderales System haben.“ Frankreich sei „von oben her gestaltet“, Deutschland habe die Länder und Baden-Württemberg seine Kommunen. „Wir haben die Instrumente schon in der Hand“, sagt sie, „wir müssen die Potenziale vor Ort nicht erst entdecken.“
Der Delegation mit Vertretern von Stiftungen, Kommunen und der Hospizbewegung, mit Referenten aus dem Landkreis- und dem Gemeindetag und Fachleuten aus der Wissenschaft eilt der Ruf voraus, beispielgebend zu sein, vor allem in Fragen der dialogischen Beteiligung. Bosch kann darauf verweisen, wie sich die „Politik des Gehörtwerdens“ in Baden-Württemberg nicht nur seit 2011 entwickelt hat, sondern auch auf die gesetzliche Verankerung der Vorhaben. „Wir haben die Instrumente in der Hand“, sagt sie, „ohne den Zeigefinger gegenüber Frankreich erheben zu wollen.“
In einem sich gerade entwickelnden Grundsatz besteht ohnehin Einigkeit: Bürgerräte, -foren oder -konvente können zum Maschinenraum der Demokratie werden, sollen und wollen gegenhalten, wenn das System durch Populismus und Nationalismus immer stärker unter Druck gerät. In Frankreich erarbeiten sich die Gremien Verständnis für politische Abläufe und Notwendigkeiten. Zwölf Mitglieder des nationalen Klima-Rates haben später sogar selbst für ein politisches Wahlamt kandidiert. Zwingend ist außerdem, wie sich Gäste und Gastgeber gegenseitig bestätigen, die von der Bürgerschaft im Dialog erarbeiteten Empfehlungen zügig umzusetzen.
Die Pariser Stadtverwaltung wird in Sachen Obdachlosigkeit noch ein richtig dickes Brett bohren müssen. Denn neben der Empfehlung hat der Bürgerrat zur Obdachlosigkeit die Aufmerksamkeit auch auf Zahlen und Fakten gelenkt: In der Seine-Metropole mit ihren zwei Millionen Einwohnern stehen 120.000 Wohnungen leer, mindestens ein Sechstel davon dauerhaft, aber rund 50.000 Menschen haben keinen festen Wohnsitz. Und die neueste Zählung in der alljährlichen „Nacht der Solidarität“ vom 23. auf den 24. Januar hat ergeben, dass 4292 Männer und Frauen im Freien schlafen müssen. Auch bei Minusgraden.
Bürger sprechen sich für Sporthalle aus
Für die kommunale Herangehensweise in Baden-Württemberg steht die dialogische Bürgerbeteiligung in Wernau (Kreis Esslingen), angestoßen durch die parteilose Bürgermeisterin Christiane Krieger. Rund um die strittige Frage des Baus einer neuen Sporthalle wurden in einem ausdifferenzierten Verfahren 30 Zufallsbürgerinnen und -bürger ausgewählt. Nach intensiven Diskussionen sprach sich eine große Mehrheit für das Projekt aus. Planungskosten sind bereits vorgesehen. Insgesamt muss der Neubau im Haushalt verankert werden.