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Fachkräftelücke

Die Babyboomer weiter im Job zu halten, wird schwierig

Wenn die Babyboomer in den kommenden Jahren in Rente gehen, wird sich die Fachkräftelücke dramatisch verschärfen. Doch es gibt Potenziale, um den Tsunami abzumildern: Vor allem, wenn man ältere Beschäftigte länger im Job halten könnte. Dafür aber müsste man einige Bremsen lösen.

Im Rentenalter weiterarbeiten? Die Bundesregierung will das mit einer Aktivrente attraktiver machen, doch Forscher sind skeptisch.

dpa/Shotshop/Monkey Business 2)

Stuttgart . Bei den Kammern ist man alarmiert. „Der demografische Wandel ist keine ferne Zukunftsmusik, sondern unsere Realität – und das mit voller Wucht“, sagt die Chefin der IHK Region Stuttgart Susanne Herre im Vorfeld eines „Fachkräfte-Summits“, auf dem Experten am Freitag in Stuttgart Lösungen diskutieren.

„In den nächsten Jahren gehen Millionen Menschen in Rente, gleichzeitig fehlen Fach- und Arbeitskräfte“, warnt Herre und fordert, in drei Punkten energisch gegenzusteuern. „Das Wissen und Können älterer Beschäftigter wertschätzen und nutzen, das Potenzial von Teilzeitkräften besser aktivieren – und die Chancen von KI mutig ergreifen.“

Die Politik traut sich nicht, das Problem an der Wurzel anzupacken

Die Kammern werben dafür, mehr Menschen im Rentenalter weiterzubeschäftigen: „Würden allein in der Region Stuttgart fünf Prozent mehr ältere Menschen arbeiten, könnten im Jahr 2035 rund 12 600 Stellen mehr besetzt werden. Statt 107 668 Stellen blieben dann nur 95 035 unbesetzt.“ Doch ob das gelingt, ist fraglich.

„An die vielversprechendsten Lösungen traut sich die Politik nicht heran“, sagt Oliver Stettes, der am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) zur Arbeitswelt forscht und beim IHK-Summit spricht. „Wir können viel über Zuwanderung oder über eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sprechen und dergleichen mehr. Aber da ist weniger Potenzial drin, als man gemeinhin annimmt.“

Der Arbeitsmarktforscher Stettes spricht sich dafür aus, „Anreize für Frühverrentung abzubauen und sämtliche Hürden für die Weiterbeschäftigung von Rentnerinnen und Rentnern zu beseitigen“. Tatsächlich jedoch fördert das aktuelle Rentensystem eher das Gegenteil: Es begünstigt den frühzeitigen Renteneintritt, wie Daten der Deutschen Rentenversicherung zeigen. Demnach entscheiden sich inzwischen mehr Menschen für einen vorzeitigen Ruhestand, als bis zum regulären Renteneintrittsalter erwerbstätig zu bleiben.

Beschleunigen tut das die abschlagsfreie Rente, die Arbeitnehmern nach 45 Beitragsjahren erlaubt, vor dem regulären Renteneintrittsalter in den Ruhestand zu gehen. Abschlagsfrei heißt: Sie bekommen die volle Rente ohne Kürzungen. Aktuell ist dies ab Jahrgang 1964 mit 65 Jahren möglich. Finanziell lohnt sich das oft. „Unter dem Strich ist es für sie lukrativer, als wenn sie weiterarbeiten und damit ihren Rentenanspruch erhöhen würden“, sagt Stettes. Aus Befragungen wisse man, dass nicht die gehen, die gesundheitlich angeschlagenen sind, sondern jene, die es sich finanziell leisten könnten.

Fehlanreize resultieren auch daraus, dass die Politik die Hinzuverdienstgrenze bei vorzeitigem Renteneintritt abgeschafft hat. Bis 2023 konnten Frührentner nur in einem Minijob arbeiten. Alles, was sie darüber hinaus verdient hatten, wurde auf ihre Rente angerechnet. „Das hat man abgeschafft in der Hoffnung, Menschen länger im Erwerbsleben zu halten“, erklärt Stettes. Für ihn „eine Milchmädchenrechnung“. Man habe so vielmehr den Anreiz erhöht, früher in den Vorruhestand einzutreten. „Das Zusatzeinkommen neben der Rente muss zwar versteuert werden, aber da muss man schon sehr alt werden, dass sich das für einen nicht rechnet.“

Aktivrente birgt steuerrechtliche Probleme

Die Bundesregierung will das mit der „Aktivrente“ korrigieren. Damit sollen Rentner bis zu 2000 Euro monatlich steuerfrei hinzuverdienen können. Doch das birgt steuerrechtliche Probleme. „Die Aktivrente diskriminiert Selbstständige, die im Alter weiterarbeiten, jedoch keine Rente beziehen“, erklärt der Forscher. Es sei fraglich, ob es rechtlich zulässig sei, wenn jemand im Alter von 68 Jahren noch einen Einzelhandel betreibt, auf sein Einkommen Steuern entrichtet und andere von einem zusätzlichen Steuerfreibetrag von 2000 Euro aus der Aktivrente monatlich profitieren. Sein Fazit ist ernüchternd: „Die Politik versucht mit der Aktivrente, Fehlanreize zu beheben, die sie zuvor geschaffen hat.“

Die Anreize für einen früheren Renteneintritt führen auch in Unternehmen zu einem Dilemma. „Wenn Unternehmen wissen, dass ein Mitarbeiter früher geht, werden sie kaum mehr in seine Qualifizierung investieren oder seinen Aufgabenzuschnitt verändern“, sagt Stettes. „Das wiederum spiegelt ihnen: mit mir passiert hier nichts mehr, selbst wenn ich wollte. Auch das kann das Ausscheiden des Mitarbeiters fördern.“ Für den Forscher ist die Lösung eindeutig : „Wir müssen den vorzeitigen Renteneintritt deutlich unattraktiver machen und die, die über das gesetzliche Alter von 67 Jahren hinaus arbeiten, steuerlich belohnen.“

Ältere Arbeitnehmer weiterbilden

Susanne Herre, Hauptgeschäftsführerin der IHK Region Stuttgart, fordert, ältere Arbeitnehmer gezielt an digitale Technologien und an Künstliche Intelligenz heranzuführen. „Wenn es gelingen soll, ältere Menschen länger im Berufsleben zu halten, brauche es dafür spezielle Bildungsprogramme für ältere Arbeitnehmer“, erklärt sie. Überdies seien in den Unternehmen Modelle für Teilzeit, Jobsharing sowie den gleitenden Übergang in den Ruhestand nötig.

Der Arbeitsmarktforscher Oliver Stettes vom Institut der deutschen Wirtschaft spricht sich dafür aus, Anreize für Frühverrentung abzubauen und sämtliche Hürden für die Weiterbeschäftigung von Rentnerinnen und Rentnern zu beseitigen.

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