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Wo Flachsfasern im Leichtbau Beton und Stahl ersetzen

Bauforscherin Hanaa Dahy hat mit ihrem Team an der Uni Stuttgart und mehreren Partnern die Grundlagen für die Ulmer Brücke entwickelt.
Smart Circular Bridge)Ulm/Stuttgart. Wenn von nachwachsenden Materialien am Bau die Rede ist, denken die meisten Menschen an Holz. Nicht jedoch Hanaa Dahy. Die in Ägypten geborene Architektin und Hochschullehrerin an der Universität Stuttgart hält den verstärkten Einsatz von Holz, um den Bausektor nachhaltiger zu machen, für den sprichwörtlichen Holzweg.
„Holz ist und darf nicht die Lösung für unsere Baumaterialien-Knappheit sein. Es wächst zwar nach, jedoch vergleichsweise langsam“, hatte die Wissenschaftlerin schon vor zweieinhalb Jahren im Magazin der Universität Stuttgart erklärt. Wälder würden vielmehr als CO 2 -Speicher gebraucht. Sie setzt stattdessen auf nachwachsende Rohstoffe, die jährlich geerntet werden können, wie etwa Flachs.
Rohstoff lässt sich regional anbauen
Die alte Kulturpflanze, die noch heute für die Herstellung von Leinen-Textilien und die Gewinnung von Leinöl angebaut wird, hat als Baustoff günstige Eigenschaften. Denn Flachsfasern sind reißfest und leicht, ähnlich der Glasfaser. Sie sind aber nachwachsend und lassen sich mit viel geringerem Energieaufwand nutzbar machen. Zudem kann Flachs vor Ort angebaut werden. Wenn die Faser mit einem speziellen Harz verfestigt wird, das zum Teil auf biologischer Basis hergestellt wird, entsteht ein Verbundwerkstoff, der gleichzeitig leicht und sehr fest ist.
Wie sich der neue Werkstoff in der Baupraxis einsetzen lässt, hat Dahy mit ihrem Team der Forschungsgruppe „Biobasierte Materialien und Stoffkreisläufe in der Architektur“ (BioMat) im Projekt „Smart Circular Bridge“ erprobt. In dem von der EU geförderten Forschungsprojekt, an dem neben der Uni Stuttgart weitere 14 Partner aus der Wissenschaft , der Industrie und auch Kommunen – vor allem aus Deutschland und den Niederlanden – beteiligt sind, wurden zwei Flachs-Brücken gebaut.
Die erste wurde 2022 in Almere in den Niederlanden als Fußgängerbrücke im Rahmen einer Gartenbauausstellung errichtet, die zweite in Ulm . Sie wurde vor wenigen Wochen eröffnet und ist deutlich tragfähiger als die erste. Auch Autos können die Brücke überqueren, die mitten in der Altstadt unweit des Ulmer Münsters zur Kleinen Blauinsel führt. Das ist bislang weltweit einmalig, wie die Stadt Ulm als Bauherrin bei der Freigabe betonte.
Alte Betonbrücke war 14 mal schwerer als die Flachskonstruktion
Die neue Brücke ist neun Meter lang und fünf Meter breit. Und während ihre Vorgängerin aus Beton 70 Tonnen wog, kommt die Flachsbrücke gerade einmal auf fünf Tonnen.
Beim Bau wurden neben dem Flachs auch gebrauchte Materialien wiederverwertet. So bestehen die Blöcke im Inneren des Brückenkörpers zwischen der Bodenplatte und der Deckschicht aus recycelten PET-Flaschen. Und für den Handlauf wurde Holz verwendet, das von einer abgerissenen Brücke stammt.
Das Geländer selbst besteht ebenfalls aus Flachs, der mit Epoxidharz versiegelt wurde, und wird von dem baden-württembergischen Start-up Fibr geliefert. Das von Dahys Achitektenkollegen Moritz Dörstelmann in Schorndorf gegründete Unternehmen hat sich darauf spezialisiert, Bauteile wie die Geländer vollständig digital zu konstruieren und mithilfe von Robotern vollautomatisch zu produzieren. Dörstelmann lehrt am Karlsruher KIT Digital Design and Fabrication.
Für die Stadt Ulm brachte das Pilotprojekt für nachhaltiges Bauen aber nicht nur positive Schlagzeilen. Der Bund der Steuerzahler nahm die Brücke im vergangenen Jahr in sein Schwarzbuch als Beispiel für die Verschwendung von Steuergeldern auf, weil sie am Ende deutlich teurer wurde als geplant.
Brücken werden mit Sensoren für weitere Forschung überwacht
In der Stadtverwaltung weist man die Kritik zurück. Die Brücke sei für die Stadt nur 150 000 Euro teurer als eine konventionelle Konstruktion aus Stahl und Holz. Und das hält man bei der Stadt Ulm für gerechtfertigt, um das nachhaltige Bauen voranzubringen und seiner Verantwortung für den Klimaschutz gerecht zu werden.
Das Forschungsprojekt „Smart Circular Bridge“ ist inzwischen offiziell abgeschlossen, doch beide Brücken werden von den beteiligten Wissenschaftlern weiterhin überwacht. Sensoren erfassen Daten zu Belastung, Verformung, Temperatur und Umwelteinflüssen und übermitteln sie in Echtzeit. Daraus will das Forscherteam an der Uni Stuttgart Erkenntnisse gewinnen, um die Konstruktion und die Materialzusammensetzung weiter zu verbessern.