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Essay

Wir müssen nicht auf TikTok tanzen, sollten dort aber aktiv sein

Die Justiz spricht durch ihre Urteile, heißt es. Nur hört und versteht das niemand mehr, sagt Jörg Müller. Der Präsident des Oberlandesgerichts spricht sich dafür aus, dass die Justiz in den Sozialen Medien aktiver ist. 

Jörg Müller spricht sich dafür aus, dass die Justiz in den Sozialen Medien mehr Präsenz zeigt.

Bernd Anstett)

ARD- und ZDF-Zuschauer sind statistisch Mitte 60. Jugendliche verbringen immer weniger Zeit mit Zeitung und Fernseher, sie „informieren“ sich zu rund 75 Prozent hauptsächlich aus Social Media, oft als bloßer Beifang zu Unterhaltungscontent, weil sie bei Nachrichten keinen Bezug zum eigenen Leben erkennen. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen sieben und elf Millionen Deutsche über 16 normal komplexe Sprache nicht mehr verstehen. Dementsprechend werden Pressemeldungen – wenn sie überhaupt in den konsumierten Medien auftauchen – vielfach gar nicht mehr inhaltlich aufgenommen.

Es gibt auch keine gemeinsame gesellschaftliche Informationsbasis mehr, wie früher den Tagesschau-Inhalt des Vorabends. Vor allem Jüngere holen sich ihr „Wissen“ aus TikTok-Reels, YouTube-Shorts und – leider immer noch – X-Tweets. Influencer haben die Anchor-Men und –Women längst abgelöst. Nur Justiz-Influencerinnen und Influencer gibt es bislang kaum; wer nach dem Begriff sucht, stößt auf wenige Dutzend Namen. Dennoch findet die Justiz auf Social Media statt, denn Konflikte und Gerechtigkeit sind unverändert emotional wirksame Themen. Bislang aber fungiert die Justiz im Internet überwiegend als skandalisiertes, verzerrtes Objekt der Lächerlichkeit oder des Hasses. Und dabei wird es bleiben, wenn wir dort nicht selbst unsere Geschichten erzählen, nicht zum aktiven Subjekt werden.

Die Kommunikationserwartungen anpassen

Dazu müssen wir nicht unsere Seriosität aufgeben, Lügen und Hetze verbreiten oder gar „auf TikTok tanzen“. Aber wir müssen uns den Kommunikationserwartungen anpassen, damit wir nicht nach drei Sekunden weggeswiped werden. Das ist die übliche Spanne binnen derer Social-Media-Konsumenten entscheiden, ob sie einem Beitrag weiter folgen. Das heißt: Persönliche Ansprache statt institutioneller Accounts, bewegte Bilder mit schnellen Schnitten, Untertitelung, konzentrierte, prononcierte, leicht verständliche Aussagen und Dialog statt Verkündung.

Und was ist der Lohn? Überraschenderweise viel Interesse, Offenheit für Information und nicht selten Vertrauen. Im ersten Jahr auf LinkedIn hatte mein persönlicher Account mehr als eine Million Aufrufe – noch ohne jedes Video. Videos gibt es jetzt mit dem Podcast „Samt versus Seide“. Und ich erhielt viel öfter ausdrücklichen Dank als Kritik für sachliche Information zu scheinbaren Skandalen. Nicht selten konnte ich sehr kritische User am Ende zu einer offenen Haltung bewegen oder gar zur Bewerbung als Schöffenrichter.

„Aber die Shit-Storms!“ Klar, es gibt Aufreger-Themen und zum Teil unsachliche Kommentare bis hin zur Strafbarkeit. Echte Shit-Storms sind trotzdem selten und selbst damit kann man professionell umgehen. Übrigens helfen da bereits überzeugte Follower oft mit, sodass man selbst nur wenig tun muss. Überhaupt darf man den Multiplikationseffekt nicht unterschätzen. Viele User sind dankbar, wenn man ihnen Argumente an die Hand gibt, die sie im Netz zitieren und verwenden können.

Wer Respekt für staatliche Institutionen fordert, muss dort hingehen, wo sich Menschen aufhalten

Allerdings darf man die Dinge auch nicht naiv angehen. Kommerzielle Kanäle arbeiten mit Algorithmen, die nur ein Ziel kennen: Verweildauer. Denn damit wird die geschaltete Werbung einträglicher. Menschen bleiben umso länger auf einer Plattform, je stärker sie emotional getriggert werden. Aus evolutionstechnischen Gründen klappt das über Wut, Angst und Ärger besser als über Freude – Katzenfotos ausgenommen. Deshalb sind staatliche Akteure, die sachlich und wahrheitsgetreu agieren müssen, strukturell im Nachteil. Das wird noch verstärkt, weil differenzierte Äußerungen tendenziell länger sind – auch das straft der Algorithmus.

Von daher sollten wir – auch im Sinne digitaler Souveränität – zumindest parallel auf nicht-kommerzielle Netzwerke setzen, das sogenannte „Fediverse“. Mittlerweile bieten wohl alle Datenschutzbeauftragten der Länder und des Bundes eigene Instanzen von „Mastodon“ an, der Twitter-Alternative im Fediverse. Hier kann man – auch datenschutzrechtlich unbedenklich – posten, wie es zum Beispiel viele Universitäten, Ministerien und Gerichte tun, erreicht allerdings (noch) eher eine vor allem akademische, eh kritisch denkende Nutzerschicht.

Von daher: nur Mut! Wer mehr Respekt für staatliche Institutionen fordert, muss dort hingehen, wo sich Menschen heute aufhalten, das sind vor allem Social Media. Nur dann gewinnen wir wieder mehr Relevanz und Vertrauen. Mit professioneller Unterstützung ist das möglich. Und – zum Teil – macht es sogar Spaß.

Den Podcast „Samt versus Seide“ von Jörg Müller finden Sie hier .

Mehr zum Thema:

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