Themen des Artikels
Um Themen abonnieren und Artikel speichern zu können, benötigen Sie ein Staatsanzeiger-Abonnement.Meine Account-Präferenzen
Experten: Der Druck auf Schüler und Lehrer wächst

Die mentale Gesundheit der Schüler ist nach wie vor schwächer als vor der Corona-Pandemie.
IMAGO/imagebroker)Stuttgart. Thomas Poresk i, bildungspolitischer Sprecher und Vizefraktionschef der Grünen im Landtag, hatte Verbandsvertreter und Schulpraktiker zu einem Fachgespräch über die psychosoziale Lage der Schülerinnen und Schüler geladen, „damit ein einigermaßen realistischer Blick bei uns ankommt.“
Die Zahlen, die er zu Beginn präsentierte, seien „erschütternd“, der Unterschied zur Zeit vor Corona „drastisch“. Nur acht Prozent der Schüler verfügen nach eigener Angabe über „hohes schulisches Wohlbefinden “. Von Kindern mit mentalen Problemen bezweifelt fast die Hälfte (45 Prozent), dass sie an der Schule Hilfe finden. „Das System ist auf diese Herausforderungen nicht eingestellt“, folgert Poreski.
Entsprechend gefragt sind Angebote, die Abhilfe schaffen sollen. Ina Schaack leitet ein privates Lernprojekt in Pforzheim. Sie arbeitet mit Jugendlichen, die der Schule schon längere Zeit ferngeblieben sind. „Mein tägliches Brot ist es, mit Schulvermeiderinnen und Schulvermeidern in Kontakt zu kommen, um eine Rückkehr in den Alltag zu ermöglichen“, erläutert sie. Diese seien nicht nur aus dem Schulleben raus, sondern auch aus dem ganzen sozialen Kontext.
Experten fordern mehr Psychologen und Sozialarbeiter an den Schulen
Diesen kann sie ein individuelles Angebot machen, da in der Regel der externe Hauptschulabschluss das Ziel sei, „bei dem die Anforderungen ja nicht gar so hoch sind“, so Schaack. Es gehe vorwiegend um Stabilisierung. „Lernen ist nicht das Problem, sondern die Rückkehr in den Alltag.“
Bernardica Dološ-Ratkovcic ist seit 15 Jahren als Schulpsychologin tätig und gehört deren Landesverband an: „Die Arbeit hat sich sehr verändert“, sagt sie. Fälle psychischer Belastung von Schülern, aber auch von Lehrern, würden mehr – „und mehr davon landen bei uns“, berichtet sie. „Wir schrammen oft knapp an der Therapie vorbei“, doch eine solche könnten sie nicht anbieten. Ziel sei, „Hilfe zur Selbsthilfe“. Zunächst schaue man auf die Probleme, dann das Schulische: „Motto ist: Störung geht vor Leistung“.
Edgar Bohn ist der Landesvorsitzende des Grundschulverbands . Die mentale Gesundheit der Schüler „hat sich radikal verändert“, so sein Befund. Bis zur Pandemie seien es vor allem kognitive Defizite gewesen, mit denen sich Grundschullehrer auseinandersetzen mussten: „Kinder hatten wenig Erfahrung mit der Schrift, mit Zahlen oder im Umgang miteinander, und es war unser Job, sie da zu fördern.“ Doch mittlerweile lägen die „Herausforderungen verstärkt im emotionalen und sozialen Bereich“. Dabei gelte bei Grundschülern der Grundsatz „Bindung vor Bildung“.
Eine tragfähige Bindung schaffen und halten
Um überhaupt Bildung zu ermöglichen, „müssen wir eine tragfähige Bindung schaffen und halten“, so Bohn. Dazu bleibe allerdings immer weniger Zeit. Aktuell gibt es ihm zufolge 14 aktuelle Anliegen, Anforderungen und Projekte des Kultusministeriums, die Grundschullehrer abarbeiten müssten, darunter Kompass 4, Sprach-Fit, Leseförderung und Matheförderung und so weiter.
„Die Lehrkräfte sind total überfordert, all das zu bündeln und in geordnete Bahnen zu lenken“, sagt Bohn. Mika Graesch, Praktikant bei Poreski, hat erst im Vorjahr das Abitur abgelegt, und hatte, wie er selbst sagt, „eine sehr dynamische Schulzeit“. An seiner Gemeinschaftsschule in Tübingen sei die Bindung von Schülern und Lehrern untereinander sehr gut gewesen. So „konnte viel abgefedert und bewältigt werden“ und Probleme zumindest abgeschwächt werden. Diese Voraussetzungen gebe es aber nicht an jeder Schule.
Doch was kann Abhilfe schaffen? Mehr Schulpsychologen und mehr Sozialarbeiter an Schulen als akute Maßnahme, da war sich die Runde einig. „Ohne ausreichend Zeit und Fachkräfte scheitern Prävention und Intervention“, sagte Matthias Wagner-Uhl , Vorsitzender Verein für Gemeinschaftsschulen BW. Der scharfe Kritiker des bestehenden Schulsystems präsentierte aber auch ein umfassendes positives Konzept.
Fünf Schritte seien nötig, um das Wohlbefinden an Schulen zu steigern. Der erste sei, „Hinschauen verbindlich machen“, der letzte Partizipation. Denn: „Schüler wissen letztlich am besten, was sie brauchen“, so Wagner-Uhl. „Weniger Stoff, mehr Mensch“ und „mehr Mut zur Lücke“, brachte er seinen Wunsch nach Wandel auf die Formel: „Damit Wohlfühlen an der Schule nicht Zufall bleibt, sondern System wird“.
Mentale Gesundheit ist auch Basis für erfolgreiches Lernen
„Die physische und psychische Gesundheit der Schülerinnen und Schüler ist als eine Grundlage für erfolgreiches Lernen und Wohlbefinden ein Anliegen der Schule“, steht auf der Website des Instituts für Bildungsanalysen Baden-Württemberg. Das Mental Health-Konzept ist seit den 1990er-Jahren als Teil der Schul- und Public-Health-Strategien etabliert. Es geht um einen dynamischen Zustand des Wohlbefindens, in dem ein Individuum Lebensbelastungen bewältigt.