Themen des Artikels

Um Themen abonnieren und Artikel speichern zu können, benötigen Sie ein Staatsanzeiger-Abonnement.Meine Account-Präferenzen

Hannah Arendt oder: Kretschmann zieht Bilanz

Seine Ehefrau Gerlinde ist nicht gekommen, doch die andere Frau, die ihn geprägt hat, ist da - hinter zwei Buchdeckeln. Winfried Kretschmann liest am Freitag aus seinem Buch über Hannah Arendt vor und verrät eine Menge über sich selbst.

Robert Habeck und Winfried Kretschmann am Freitag im Stuttgarter Hospitalhof.

Michael Schwarz)

Stuttgart. Am Freitagmorgen (28. September) ist er noch im Bundesrat gewesen, hat dann gemeinsam mit dem Stuttgarter OB Frank Nopper (CDU) das 178. Cannstatter Volksfest eröffnet. Und jetzt sitzt er hier, im Hospitalhof, und hat das VfB-Trikot, das er beim Anstich trug, wieder gegen den Anzug getauscht. Und tut endlich etwas, um das ihn die Journalisten bei zwei Landespressekonferenzen vergeblich gebeten haben. Er zieht Bilanz.

Und zwar nicht nur von seiner letzten Amtsperiode, sondern von allen dreien. Was er bewirkt habe, will Moderator Peter Unfried wissen. Und Winfried Kretschmann nennt die Idee, die er schon in seiner ersten Regierungserklärung genannt hatte: die Politik des Gehörtwerdens.

Vielleicht braucht es dazu einen wie Unfried, den taz-Journalisten, der als einer der Ersten seiner Zunft erkannte, welches Potenzial in dem Oberschwaben steckt. Und sicher schadet auch nicht, dass Robert Habeck ihm zur Seite steht und ihm sogar das Mikro hält, als Kretschmann eine Passage aus seinem Buch vorliest, dessen Erscheinen der Anlass dieser Veranstaltung ist. In diesem Buch geht es, wie sollte es bei dem ersten und einzigen grünen Ministerpräsidenten auch anders sein, um Hannah Arendt.

Wetten, wann er seine Lieblingsphilosophin nennen würde

Die deutsch-amerikanische Philosophin, die einer breiten Öffentlichkeit durch ihren Bericht über den Eichmann-Prozess bekannt wurde, in dem sie den Begriff der „Banalität des Bösen“ prägte, half Kretschmann, der nach seiner Zeit in einem katholischen Internat die Befreiung der Achtundsechziger erlebt hatte und die Verbohrtheit des Maoismus, sich aus dessen Fängen zu befreien. Und zwar, indem er Arendts Texte las. Die jüdische Autorin ließ ihn nie mehr los, er erarbeitete sich ihr Werk.

Als er dann Ministerpräsident wurde, machten die Journalisten, die seine Pressekonferenzen besuchten, Wetten, wann er den Namen seiner Lieblingsphilosophin verwenden würde. Und er enttäuschte sie selten.

Nun hat er, der Naturwissenschaftler, ein Buch über sie geschrieben, das auch ein Buch über ihn selber ist. Es heißt Der Sinn von Politik ist Freiheit“ und ist am 8. September im Patmos-Verlag erschienen, die Erstauflage ist so gut wie ausverkauft. Man merkt dem Buch an, dass er Unterstützung hatte. So manche Passage klingt, als sei sie nicht von ihm, sondern von einem der guten Geister formuliert, die auch seine Reden schreiben. Etwa, wenn er „die größte Einstellungsoffensive bei der Polizei in der Landesgeschichte“ lobt oder „das umfassendste Sprachförderprogramm aller Flächenländer“. Und wo sich der Leser fragt, was in aller Welt das mit Hannah Arendt zu tun hat.

Doch das heißt nicht, dass dieses Buch nicht in großen Teilen aus der Feder des Ministerpräsidenten stammt. Die Passage, die er vorträgt, während Habeck das Mikro hält, ist es bestimmt. Es geht um Arendts Verständnis von Macht. „Macht entsteht, wenn Menschen sich um eine Idee versammeln und gemeinsam handeln“, schreibt er. Und: „Macht wird also mehr, wenn man sie mit vielen teilt, während sie im klassischen Machtverständnis weniger wird, wenn man sie teilt.“

Macht war für Hannah Arendt das Gegenteil von Gewalt

Macht sei keineswegs dasselbe, ja das Gegenteil von Gewalt. Sie forme sich im freien Miteinander von Menschen. „Denn man kann mit Waffen Dinge zerstören, aber keine neuen Dinge schaffen – das geht nur, wenn Menschen zusammenkommen.“

Der taz-Journalist äußert leise Zweifel. „Stimmt das auch?“, will Unfried wissen. Das Gegenteil sei ausgeschlossen, antwortet Kretschmann, selbst hinter Hitler hätten die Menschen gestanden, sonst wäre er nicht an die Macht gekommen.

Habeck, das merkt man an diesem Abend, hat auch seine Philosophen gelesen. Unter anderem Martin Heidegger, der nicht nur der Professor der Studentin Arendt war, nein, die beiden waren ein Liebespaar. Und sie hielten ein Leben lang Kontakt, obwohl der eine sich den Nazis anbiederte und die andere vor ihnen floh – erst nach Frankreich, dann in die USA.

Dort hat sie dann eine Zuversicht entwickelt, die erstaunt, wenn man bedenkt, was sie mitgemacht hat. Eine Zuversicht, die für Kretschmann damit zusammenhängt, dass jeder Mensch einzigartig ist. Und dass jeder Mensch Wunder bewirken kann.

Nutzen Sie die Vorteile unseres

Premium-Abos. Lesen Sie alle Artikel aus Print und Online für

0 € 4 Wochen / danach 199 € jährlich Nachrichten aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung in Baden-Württemberg Jetzt abonnieren

Lesen Sie auch