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Der schwäbische Wutdoktor und die Jauche der Kuh

Der Stuttgarter Arzt Carl Nittinger war gegen Pockenimpfungen, wie sie eine Karikatur von James Gillray von 1802 zeigt.
wikimedia)Stuttgart. Im Winter 2020/2021 erhielten die ersten Menschen im Südwesten eine Impfung gegen das Coronavirus . Im Vorfeld hatten Kritiker vor der Immunisierung und ihren angeblichen Nebenwirkungen gewarnt. Stuttgart bildete mit den „Querdenkern“ ein Epizentrum der Proteste.
Schon der führende Impfskeptiker des 19. Jahrhunderts stammte aus Schwaben. Der Bietigheimer Arzt Carl Georg Gottlob Nittinger mobilisierte im gesamten Reichsgebiet gegen die Pockenschutzimpfung.
Die Krankheit war mit den Pestepidemien des Mittelalters vergleichbar. Im Durchschnitt starb jedes fünfte Kind, viele andere litten lebenslang unter den Folgen. Erst die Entdeckung des englischen Landarztes Edward Jenner aus dem Jahr 1796 bot einen wirksamen Schutz gegen das hochinfektiöse Virus. Die Impfung gilt als bedeutendste medizinische Errungenschaft der Aufklärung.
Der Beginn von Nittingers Berufstätigkeit fällt in eine Zeit, in der sich bereits eine Opposition zur empirisch ausgerichteten Schulmedizin formiert hatte. Da die Pockenschutzimpfung für viele Menschen den ersten Kontakt mit der wissenschaftlichen Medizin darstellt, lauert hinter der Ablehnung der Vakzination oft eine generelle Fortschrittsskepsis.
Nittinger springt auf den anfahrenden Zug der Naturheilkunde auf und favorisiert „sanfte Methoden“. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, hat er sich über eine Hauslehrerstelle bis zum Medizinstudium durchgekämpft. Ab 1839 praktiziert er in Stuttgart-Berg.
Königreich Bayern führte als erster Teilstaat die Impfpflicht ein
Allmählich droht die Stimmung gegen Jenners zunächst begeistert aufgenommene Innovation zu kippen. Als erster deutscher Teilstaat hatte das Königreich Bayern bereits 1807 eine gesetzliche Impfpflicht eingeführt. 1809 zog das Großherzog tum Baden nach, 1818 dann auch Württemberg – zunächst ohne großen Widerstand.
Eine Generation später aber empfinden viele den staatlichen Druck, sich impfen zu lassen, als Bevormundung. Zudem ist die auf Kuhpocken-Erregern basierende Impfung in puncto Sicherheit noch nicht mit heutigen Vakzinen zu vergleichen. Quellen berichten von schweren Infektionen, Amputationen oder Todesfällen. Nittinger macht sich zum Anwalt der Verunsicherten, die keineswegs nur aus bildungsfernen Schichten kommen. Der Medizinhistoriker Eberhard Wolff sieht darin die „prominenteste medizinkritische Massenbewegung“ des Jahrhunderts.
Die Kampagne gegen die „Impfvergiftung“ macht Nittinger über die Tore Stuttgarts bekannt. Seine Vorträge sind gut besucht, seine Schriften weit verbreitet. Er legt zahlreiche Bücher und Aufsätze vor, die Kernaussagen sind stets dieselben. Beständige Wiederholung soll das Vertrauen in die Impfung untergraben. Das Prinzip erinnert an die Parole „Flooding the zone with shit“, die Donald Trumps Medienberater Steve Bannon in unserem Jahrhundert ausgab.
Wie moderne Demagogen nutzt auch der Stuttgarter Wutdoktor deftige Rhetorik. „Solche Schweinerei heisst man Wissenschaft! Auf solche Schweinerei gründet sich ein Staatsgesetz!“ Während heutige Impfgegner die mRNA-Technik als „Gen-Plörre“ anfeinden, diffamiert der Urahn der Querdenker den Pockenimpfstoff als „Jauche der Kuh“. Dabei weiß er als Arzt natürlich, dass in Wahrheit Lymphflüssigkeit verwendet wird.
Gezielt schürt er Emotionen. Mögliche Nebenwirkungen werden überspitzt, die Effektivität der Impfung geleugnet. Besonders gern instrumentalisiert die Szene den Tod von Kindern. „Orientierung am negativen Einzelfall“ nennt Wolff diese Taktik. Dass Nittinger gegen Beamte, Wissenschaftler und die „Staatsmedizin“ vom Leder zieht, überrascht nicht: Impfkritik inszeniert sich damals wie heute als Elitenkritik.
In Leipzig ruft der Arzt einen „Impfprotestantismus“ aus
Auch das Werben um christlich-evangelikale Milieus stellt eine Parallele zu den Querdenkern dar. In Leipzig ruft Nittinger 1869 einen „Impfprotestantismus“ aus. Die Pocken seien quasi gottgegeben, Impfung bedeute Sünde. 1874 stirbt Nittinger. Im selben Jahr erlässt Bismarck eine reichsweite Impfpflicht, worauf sich die Proteste verstärken. Mit dem in Welzheim geborenen Naturheilkundler Eugen Bilfinger (1846-1923) führt ein anderer Württemberger den impfskeptischen Kreuzzug fort.
Wie ein riskantes Impf-Experiment funktionierte
Absichtlich setzte Edward Jenner 1796 einen kleinen Jungen den Pocken aus. Er blieb gesund, denn zuvor hatte der englische Arzt ihm das Wundsekret einer Milchmagd, die an den harmlosen Kuhpocken litt, in einen Hautschlitz eingebracht. Das Experiment bewies: Die Impfung funktionierte, ein Kontakt mit der Rinderkrankheit kann die wesentlich gefährlicheren echten Pocken verhindern. Vom lateinischen Wort „vacca“ für Kuh leitet sich der Fachbegriff Vakzination ab.