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Das Gespenst von Compiègne ließ ihm keine Chance

General Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord, Reichsfinanzminister Matthias Erzberger und Unterstaatssekretär Freiherr von Langwerth-Simmern (v.li.n.re.) auf der Internationalen Konferenz über die Durchführung der Bestimmungen des Versailler Vertrags in Spa. (Aufnahmedatum: 05.07.1920-16.07.1920)
SZ Photo)Stuttgart/Biberach. Im November 1918 liegt das Deutsche Reich am Boden. Vornehm stehlen sich die alten Eliten aus der Verantwortung. Und so fährt ein tapferer schwäbischer Volksschullehrer in den Wald im nordostfranzösischen Nirgendwo, um den Job zu machen, der eigentlich Hindenburg, Ludendorff oder anderen ordensbehängten Führungsgestalten der zerbrochenen Monarchie zugekommen wäre: die Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags von Compiègne, der den Ersten Weltkrieg beendete.
Für die Feinde des Friedens und die Freunde der Rachsucht hat Matthias Erzberger damit sein eigenes Todesurteil besiegelt. Das Gespenst jenes Tages lässt ihn nicht mehr los. Erzberger wird in der Weimarer Republik zum Gesicht der „Dolchstoßlegende“. Das rechte Verschwörungsnarrativ behauptete, liberale Kreise seien der deutschen Armee in den Rücken gefallen.
Drei Jahre nach Kriegsende, während eines Urlaubs im Schwarzwald, lauern zwei ehemalige Offiziere und Freikorps-Mitglieder dem Politiker der Zentrumspartei auf und töten ihn mit mehreren Schüssen in Brust und Kopf. Damit fiel erstmals in der Weimarer Republik ein Vertreter der bürgerlichen Mitte dem deutschnationalen Revanchismus zum Opfer.
Mit 28 Jahren zog er als jüngster Abgeordneter in den Reichstag
Vor 150 Jahren, am 20. September 1875, kam Erzberger in Buttenhausen bei Münsingen zur Welt. Seine Intelligenz ermöglichte es dem Sohn eines Schneiders, das staatliche Lehrerseminar zu besuchen. Bald schon gab er das Unterrichten zugunsten seines politischen Engagements auf und trat der bürgerlich orientierten Zentrumspartei bei. 1903 wurde der 28-Jährige als damals jüngster Abgeordneter in den Reichstag gewählt. Da die Diäten seinerzeit kaum zum Leben reichten, arbeitete er parallel als Journalist. Zeitgenossen beschreiben ihn als leidenschaftlichen Humanisten und zugleich als Pragmatiker.
Rechtsextreme Kräfte fühlten sich von dem parlamentarischen Multitalent provoziert: Als Kritiker des deutschen Kolonialismus verwies der Württemberger nicht nur auf die finanzielle Misswirtschaft, sondern prangerte auch Menschenrechtsverletzungen in den Überseegebieten an. Auf seinen Druck hin musste der Leiter der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt, Ernst II. zu Hohenlohe-Langenburg, zurücktreten.
Mittlerweile in den Fraktionsvorstand seiner Partei aufgerückt, befürwortete Erzberger 1914 den Kriegseintritt, vollzog aber später eine Kehrtwende. Zwar blieb ihm aufgrund seiner katholischen Prägung der Sozialismus fremd, doch 1917 fand er politisch mit dem späteren Reichspräsidenten Friedrich Ebert zusammen. Wie dessen SPD drängte der Zentrums-Frontmann auf einen „Verständigungsfrieden“ mit den Westmächten und Russland.
Im November 1918 war die militärische Niederlage unausweichlich. Erzberger führte die Waffenstillstandskommission an und durchschaute das Spiel, das die Heeresleitung mit ihm trieb: Der schmachvolle Frieden sollte einem Liberalen angekreidet werden. Doch für Erzberger zählte nur ein möglichst schnelles Ende des Blutvergießens.
„Vaterlandsverräter“, „Novemberverbrecher“, „Reichsverderber“: Die Tinte unter der Waffenstillstandsvereinbarung war kaum trocken, da begann die ultrarechte Verleumdung Erzbergers, der jetzt den neuen Staat mit aufbaute. Noch ein paar Feinde mehr machte er sich als Finanzminister, da seine Steuerreform höhere Abgaben für Vermögende vorsah. Vor allem die Blätter des rechtsnationalen Verlegers Alfred Hugenberg stachelten die Öffentlichkeit gegen Erzberger auf. Ein erster Anschlag auf ihn schlug 1920 fehl. Illusionslos kommentierte der Davongekommene: „Die Kugel, die mich treffen soll, ist schon gegossen.“
Das Attentat erinnert an den Fall Walter Lübcke
Aus heutiger Perspektive erinnern das Attentat und seine Vorgeschichte an den Fall Walter Lübcke. Der Kasseler Regierungspräsident, der sich öffentlich für Geflüchtete eingesetzt hatte, wurde im Jahr 2019 in seinem Garten von einem Rechtsextremisten erschossen. Einschlägige Online-Foren hatten über Jahre gegen den CDU-Mann gehetzt und ihn unter anderem als „Volksverräter“ diffamiert. Dieselbe Rhetorik wie ein Jahrhundert zuvor bei Erzberger, mit ebenso fatalen Folgen.
Späte Verurteilung
Nach der Tat entkamen die Attentäter Heinrich Schulz und Heinrich Tillessen zunächst nach Ungarn, dann nach Spanien und Afrika. Anfang 1933 waren beide wieder in Deutschland, wo sie aufgrund einer Amnestie des NS-Regimes Straffreiheit genossen. Während Schulz in der SS Karriere machte, diente Tillessen in der Marine. Nach 1945 mussten sich die Mörder vor Gericht verantworten. Tillessen wurde wegen Mordes, Schulz wegen Totschlag verurteilt.