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Den Menschen hinter den Nummern ein Gesicht geben

Eberhard Röhm, Jahrgang 1928, berichtet über die Leben einzelner KZ-Häftlinge. Ihre Namen finden sich auf der 28 Meter langen Gedenkwand vor der Gedenkstätte in der Weströhre des ehemaligen Engelbergtunnels.
Leonberg. Es ist das Jahr 1944. Der Messerschmitt-Düsenjäger Me-262 wird – aufgrund der Bombenangriffe von Amerikanern und Engländern – dezentral produziert. Ein Standort kommt nach Leonberg (Kreis Böblingen). Hier werden in den Tunnelröhren des ersten Autobahntunnels vom Frühjahr 1944 bis zum April 1945 Tragflächen hergestellt. In Zwölf-Stunden-Schichten unter unmenschlichen Bedingungen von KZ-Häftlingen aus 24 europäischen Ländern. Das dafür eingerichtete KZ in Leonberg ist eine Außenstelle des KZ Natzweiler im Elsass.
Das französische Militärtribunal in Rastatt kam am 19. April 1948 in seinem Urteil zu dem Schluss: „Die Häftlinge waren für die Firma Messerschmitt regelrechte Sklaven und wurden schlimmer behandelt als Lasttiere; denn ein Besitzer achtet darauf, seinen Viehbestand nicht auszumergeln, um ihn zu schonen, während die Ingenieure von Messerschmitt sich herzlich wenig um das Leben der Deportierten sorgten, die durch andere ersetzt wurden, wenn sie starben.“
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Unter den abgemagerten Gefangenen waren auch Edoardo und Riccardo Goruppi. Sie kamen vom KZ Dachau nach Leonberg. Der Vater, Edoardo, starb in Leonberg, einer von 389 Menschen, die in einem Massengrab auf dem Blosenberg verscharrt wurden. Heute liegen ihre Gebeine auf dem alten Friedhof in Leonberg. Die Familie Goruppi war die erste, die das Grab dort kenntlich machte und eine Steinplatte für Edoardo niederlegte. Angehörige weiterer im KZ getöteter Menschen folgten.
Nach seiner Rettung konnte Riccardo Goruppi nicht an seinen Namen erinnern
Der Sohn Riccardo, der im Alter von 17 Jahren ins KZ Leonberg kam, überlebte – sowohl das KZ als auch den darauf folgenden Todesmarsch nach Bayern. Als er von den Amerikanern gerettet wurde, wusste er zunächst seinen Namen nicht mehr. Das einzige, woran er sich erinnern konnte, war seine Nummer als KZ-Häftling: 40148. Eine Nummer, die er auch Jahrzehnte später bei einem Besuch in Leonberg noch auswendig sagen kann. Keine Namen mehr zu haben, sondern nur noch Nummern zu sein, war traumatisch. Genau da setzt die Gedenkarbeit in Leonberg an: Den Menschen hinter den Nummern ein Gesicht zu geben.
80 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes besucht Landtagspräsident Muhterem Aras (Grüne) im Rahmen ihrer Gedenkstättenreise die Gedenkstätte in der alten Engelbergtunnelröhre. 30 Meter Ausstellungsfläche gibt es hier. Der Rest der beiden alten Tunnelröhren wurde inzwischen zugeschüttet.
Eberhard Röhm hat die Gedenkstätte mitbegründet
Eberhard Röhm, Jahrgang 1928, der die Gedenkstätte mitbegründet und in Geschichtswerkstätten nach ehemaligen KZ-Insassen und ihren Angehörigen geforscht hat, erläutert Aras einzelne Schicksale. Alle bekannten Namen von Häftlingen sind auf einer 28 Meter langen Wand vor der Gedenkstätte nachzulesen. Rund 5000 Menschen haben in dem einen Jahr, indem das KZ bestand, hier für Messerschmitt gearbeitet.
Plötzlich schlägt Röhm mehrfach mit einem Hammer auf ein Metallstück. Ohrenbetäubender Lärm hallt durch das Tunnelstück. Das gibt einen Eindruck von den Arbeitsbedingungen. Denn in der ursprünglich 300 Meter langen Tunnelröhre hat nicht nur eine Person Nieten in die Flugzeugflügel gekloppt, sondern viele. Der Lärm muss unerträglich gewesen sein.
Über das KZ sprach nach dem Zweiten Weltkrieg niemand
Bis es zu der Gedenkstätte in Leonberg kam, vergingen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aber viele Jahrzehnte. Es wurde nicht darüber gesprochen. Wer erst später in die Stadt zog, wusste nicht, dass es hier ein KZ gegeben hatte. Für Aras macht die Gedenkstätte bewusst, „wozu Menschen fähig sind, wenn aus Vorurteil Verachtung und aus Verachtung Vernichtung wird.“
Und sie sagt weiter: „Dieses Wachrütteln brauchen wir angesichts des erstarkenden Rechtsextremismus und Antisemitismus vielleicht mehr denn je in der Geschichte unserer Bundesrepublik.“
Weg der Erinnerung
In Leonberg gab es einzelne Menschen, die versuchten den Häftlingen zu helfen, in dem sie Post schmuggelten, Essen eingepackt im Misthaufen versteckten oder auch einzelne Häftlinge versteckten. Doch es waren Einzelaktionen. Eine von ihnen war Margarete Stingele, die zusammen mit ihrem Mann Karl den KZ-Häftlingen Essen, Kleidungsstücke und Informationen zukommen ließ. Kurz vor Kriegsende versteckte sie fünf Häftlinge in ihrem Haus für einige Wochen. Ihre Hilfe wurde erst 1979 bekannt, als ein ehemaliger Gestapohäftlinge bei einer Vortragsreihe über das KZ in Leonberg darüber berichtete. Inzwischen wurde eine Straße nach ihr benannt.
Neben der Gedenkstätte im ehemaligen Engelbergtunnel gibt es auch einen Weg der Erinnerung. Er führt vom Grab auf dem alten Friedhof in der Seestraße weiter zum heutigen Altenheim Samariterstift. Auf dem Gelände standen damals Baracken des KZ, in denen die Menschen zusammengepfercht waren. Auf dem Blosenberg erinnert ein Kreuz an das ehemalige Massengrab und in der Blosenbergkirche wird der Menschen gedacht, die im KZ-Leonberg umkamen. Auch am Bahnhof erinnert eine Tafel daran, dass die KZ-Häftlinge hier ankamen.
Für Aras ist die Gedenkstättenarbeit wichtig. „Es geht dabei nicht darum, ein schlechtes Gewissen zu haben. Sondern es geht darum, ein Gewissen zu haben!“, sagt sie. Sie spricht von der Bedeutung, ein Gespür dafür zu haben, wo Unrecht seinen Anfang nimmt. Es gehe auch nicht darum, sich schuldig zu führen. „Sondern darum, zu wissen, dass man Schuld auf sich nimmt, wenn man keinen Widerstand leistet im Angesicht der Unmenschlichkeit.“ Und es gehe darum, Verantwortung für die Gegenwart zu tragen.