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Proteste gegen die Atomenergie

Wyhl war der Aufbruch in die Anti-Atomkraftbewegung

„Nai hämmer gsait!“ („Nein haben wir gesagt!“) wurde zum selbstbewussten Schlagwort: Am 18. Februar 1975 verhinderten Frauen und Männer den Baubeginn für das Atomkraftwerk im südbadischen Wyhl und hielten wochenlang das Gelände besetzt. Der Mythos lebt noch ein halbes Jahrhundert danach.

Ein Klassiker ist der Protestspruch „Nai hämmer gsait!“ Foto: Winfried Rothermel

Winfried Rothermel)

Wyhl. „Funktionierende Gesellschaften brauchen kollektive Erlebnisse“, sagt Wolfgang Frey. Der international renommierte Architekt kommt vom Kaiserstuhl. Mit seinen 64 Jahren kann er sich noch gut erinnern an die bewegten Jahre Anfang der 1970er-Jahre und an die Besetzung des Baugeländes ganz besonders. Denn das sei gerade für die Kinder kein Abenteuer oder Spiel gewesen, „sondern alle haben die Notwendigkeit verstanden“.

Die erste Räumung des Platzes mit Hundestaffeln und Wasserwerfern oder die Einzäunung mit Panzerdraht führten zu einer ungeahnten Solidarisierung. Am ersten Sonntag nach dem Kirchgang kamen knapp 30 000 Menschen. Aus Handwerkern und Bauern, Unternehmern und Arbeitern, dem Gemeindepfarrer, den Bürgermeistern, Lehrkräften, Apothekern, Ärzten, Müttern und Großmüttern mit Strickzeug wurden Besetzer.

Winzer und Landwirte demonstrierten in Breisach

Seit 1972 war schon viel geschehen, darunter ein gemeinsamer Protestmarsch von Atomkraftgegnern diesseits und jenseits des Rheins gegen die Planungen in Fessenheim. Winzer und Landwirte demonstrierten am zweiten Standort der Region in Breisach, 65 000 Einsprüche werden im Landratsamt Freiburg hinterlegt. Im Juli 1973 machen Berichte die Runde, dass aus Breisach nichts wird, sondern Wyhl in den Blick genommen ist. Wieder wird gesammelt, fast 100 000 Unterschriften dagegen kommen zusammen. Zur Zäsur wird die Bekanntgabe des Standorts für ein Vorhaben der Chemischen Werke München in Marckolsheim im Elsass, die Aufweichung von Umweltstandards erregt den Zorn vieler Einheimischer. Ein Zusammenschluss von Bürgerinitiativen gründet sich, gemeinsame Demos finden stand.

Mehrere tausend Kernkraftgegner demonstrieren am Ostermontag, den 31.3.1975 mit einem Sternmarsch und einer anschließenden Kundgebung auf dem besetzten Baugelände gegen die geplante Errichtung des Atomkraftwerkes Wyhl im Kreis Emmerdingen in Baden-Württemberg.

Der damals regierende CDU-Ministerpräsident Hans Filbinger prophezeite, dass ohne ein Kernkraftwerk in Wyhl bald die ersten Lichter ausgehen werden und hoffte auf eine Spaltung. Einerseits räumte er ein, dass es „zweifellos zu einer gewissen Solidarisierung an Ort und Stelle gekommen ist“. Er wolle aber „den besonnenen Kräften unserer Bevölkerung die Möglichkeit geben, hier sich wieder herauszufinden“.

Er habe niemals „unsere Bürger in einen Topf geworfen mit den Extremisten und den Kommunisten, denen es nicht geht um den Umweltschutz, sondern die in erster Linie gegen unseren Staat angehen wollen“. Immerhin hatten im Januar 55 Prozent der Wahlberechtigten in einem Bürgerentscheid für den Verkauf des vorgesehenen Geländes gestimmt, gerade mit Blick auf die versprochenen Arbeitsplätze.

Die Bürgerschaft wollte sich aber nicht spalten lassen und sorgte an jenem 23. Februar 1975 dafür, dass sich die Polizei zurückzog. Bis November blieb der Bauplatz in Besetzerhand, sogar eine Volkshochschule als alternative Bildungsstätte entstand. Erste Gespräche nach dem freiwilligen Rückzug begannen, nicht angestoßen von Filbinger, sondern mitangestoßen vom damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Lothar Späth.

Das Ende der Geschichte ist bekannt: Wyhl wurde nie gebaut, 1994 wird das Projekt endgültig und offiziell begraben. Viele Analysen, Untersuchungen und Rückblicke zu Jahrestagen sind geschrieben. Wyhl war der Aufbruch in die Anti-Atomkraftbewegung in der Bundesrepublik. Zudem war „der Widerstand stilbildend für den Aufschwung der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen ab Mitte der 1970er-Jahre“, schreibt die Landeszentrale für politische Bildung (LpB), „und drittens gelten bis heute die Ereignisse als eine entscheidende Wegmarke zur Gründung und Etablierung der Grünen im Südwesten.“

Gerade rund um den Machtwechsel 2011 und den Wahlsieg von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wurde von vielen Seiten noch einmal auf die Bedeutung der Bilder hingewiesen, die die Besetzer in Südbaden produzierten – im Gegensatz zum Widerstand in Brokdorf, in Wackersdorf oder in Gorleben.

„Lernen fürs Leben“, das Motto seiner Lehrkräfte 1974, hat Wolfgang Frey nie vergessen. „Wyhl hat uns auf vielfältige Weise verbunden, miteinander, trotz unterschiedlicher Herkunft, mit unserer Heimat, trotz unterschiedlicher Interessen, mit dem Thema Ökologie“, sagt er. Und natürlich seien nicht alle Ökobauern oder Ökowinzer geworden, „aber die Themen Umwelt und Energie haben uns nie mehr losgelassen“.

Ein Gedenkgottesdienst zur Bewahrung der Schöpfung

Der Bauplatz ist inzwischen ein Naturschutzgebiet geworden. Und der 50. Jahrestag wird angemessen begangen mit Ausstellungen oder mit einer Filmvorführung. Sowie einem Gedenkgottesdienst zur „Bewahrung der Schöpfung“.

Aktive Bürgerinitiativen

Am 18. Februar 1975, vor 50 Jahren, wurde im Wyhler Wald in Südbaden Geschichte geschrieben. In der am 31. Januar 1976 geschlossenen Offenburger Vereinbarung verpflichteten sich Landesregierung und Kraftwerksbetreiber, sämtliche Verfahren gegen Beteiligte der Besetzungen einzustellen, den Weiterbau des Atomkraftwerkes vorerst zu stoppen und weitere Gutachten einzuholen. Im Gegenzug wollten die Bürgerinitiativen in Zukunft auf illegale Aktionen wie etwa Bauplatzbesetzungen verzichten und den Rechtsweg ausschöpfen. Die Dimensionen der Proteste nahmen spürbar ab, doch die Bürgerinitiativen blieben aktiv und in der Region präsent.

Mit Wasserwerfern der Polizei wurde am 20. Februar 1975 der gewaltlose Widerstand der Wyhler Demonstranten für kurze Zeit gebrochen. Foto: Lutz Rauschnick

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