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Karrierewechsel: Ex-Bürgermeister Christoph Jäger tauscht Rathaus gegen Rockmusik

Seit Kindertagen schon greift Christoph Jäger in die Tasten.
privat)Montagabend, Sankt-Gallus-Kirche zu Welzheim : das traditionelle Friedensgebet. Gekommen sind geschätzt einhundert Männer und Frauen. Mitten im Gotteshaus sitzt ein Mann am E-Piano: Christoph Jägers Finger tanzen auf den Tasten und er singt. Der Titel seines ersten Songs: „Sag mir wann – wird endlich Frieden sein“ – soweit, so erwartbar. Ein Friedenslied zum Friedensgebet. Ein paar Besucher der Veranstaltung, die immer montags in dem Gotteshaus stattfindet, kennen den Musiker persönlich, einige vom Hörensagen. Der Mann hat vor ziemlich genau einem Jahr einen kompletten Neustart hingelegt. Christoph Jäger war 24 Jahre lang Bürgermeister von Großerlach , einer knapp 3000 Einwohner zählenden Gemeinde im Schwäbischen Wald. Er saß fest im Sattel, war stets mit satter Mehrheit gewählt worden, beim ersten Urnengang mit knapp 75 Prozent, beim zweiten und dritten mit mehr als 90 Prozent. Jetzt indes macht der Mann mit dem verschmitzten Lachen professionell Musik. Jäger kann gebucht werden. Für Liedermacherabende und „akustische Konzerte mit Tiefgang“. Für musikalische Umrahmungen von Events wie Lesungen oder auch für Hochzeiten. Er spielt solo oder zusammen mit seinem Freund, dem Gitarristen Sepp Steinkogler. Das Duo Jäger/Steinkogler hat bis dato zwei CDs aufgenommen: „Ich singe meine Lieder“ und „Herzschlag“. Deutsche Texte, Folkrock-Klänge in der Tradition der Chansonniers, der Liedermacher.
Schon früh spielte er Piano, doch die Politik wurde zum Beruf
Piano statt Politik. Warum dieser Wandel? Der Soundtrack seines Lebens, so hat alles angefangen. September 1968, Christoph erblickt in Tettnang am Bodensee das Licht der Welt. Die Familie zieht bald um nach Sasbach am Kaiserstuhl, wo der Vater, ein CDU-Mann, zum Bürgermeister gewählt wird. Bürgermeister, das will der Christoph lange Jahre auf keinen Fall werden, wegen „der Belastung für die Familie“, die er als Kind hautnah miterlebt.
Für ihn und seine drei Geschwister ist klar: Ein Musikinstrument wird gelernt! Das ist mehr als ein Wunsch der Eltern. Klein-Christoph spielt zunächst Akkordeon, später Klavier. Dann verlässt ihn die Lust. Mit 15 Jahren dann sein „Erweckungserlebnis“: die Rockoper „Tommy“ der britischen Band The Who. Der Schüler ist schon nach ein paar Takten dieses Sounds angefixt – und schreibt bald seinen ersten eigenen Song „Ragged Shirt“. In dem Stück geht es um Kinder, die auf der Straße leben. Der Musiklehrer Jürgen Braun fördert Jäger. Mit dem Schulchor und Schulorchester seines Gymnasiums in Breisach nimmt Braun eine Schallplatte auf. 1988 macht der Christoph Abitur – mit den Leistungskursen Englisch und Musik. Aus Spaß an der Freude übersetzt er Musicals, etwa „Das Phantom der Oper“.

Profimusiker werden? Das ist dem jungen Mann zu riskant. Heute sagt er selbst: „Ich war nicht gut genug.“ Er will zwar weiter keinesfalls Bürgermeister werden, besucht aber die Hochschule für Verwaltung in Kehl. Sicherheit geht vor. Jäger wird Sänger der Hochschulband, tritt mit Rock-Coversongs vor mehr als 1000 Leuten auf – und nach dem Studium 1992 seine erste Stelle bei der Ausländerbehörde des Landratsamts in Waiblingen an. Musik macht er die nächsten Jahre nur für sich allein und gelegentlich im Kreis der Familie.
Auch als Bürgermeister bleibt er der Musik treu und sattelt letztlich um
Mitte der 1990er-Jahre entdeckt Jäger in der Lokalzeitung eine Anzeige: „Rockband sucht Sänger“. Seine damalige Freundin Elke – sie ist längst seine Frau – fragt ihn: „Hast Du nicht Lust?“ Und ob! Christoph Jäger meldet sich – und tritt fortan mit „Dirty Old Men“ auf. Mit von der Partie ist damals wie heute wieder Sepp Steinkogler. Bevor der Mann aus Baden 2000 zum Bürgermeister gewählt wird, singt er auch für andere Bands.
Jahre später, Jäger gehört zu den etablierten Bürgermeistern im Rems-Murr-Kreis, sitzt für die CDU im Kreistag: Eine Einladung eines Gesangsverein in Grab, einem Teilort der Gemeinde Großerlach, flatterte ins Haus. Der Herr Bürgermeister zeigt beim Auftritt mit Chor, was er kann, am Klavier und mit seiner rockigen Stimme. Das Publikum ist begeistert.
Der Job im Rathaus wird immer aufreibender, trotz aller Routine, speziell wegen der ausufernden Bürokratie, erklärt Jäger. Das fordert seinen Tribut. 2017 erlebt der Bürgermeister seinen Zusammenbruch, „das kam wie aus dem Nichts“. Er kämpft sich zurück ins (Berufs)Leben. Nach der Genesung ist dann dieser Gedanke im Kopf: Nochmals acht Jahre Bürgermeister? „Schaffe ich das?“ Er könnte antreten – mit dem Plan, nur noch zwei, drei Jahre zu machen und dann abzutreten. Die volle Pension wäre ihm sicher. „Aber das bin ich nicht.“ Ganz oder gar nicht – das ist Jägers Motto. Und er beschließt: Das war’s mit Bürgermeister. Seit einem Jahr lebt der Ex-Schultes als Teilzeit-Ruheständler, freiberuflicher Redner, Musiker und Liedermacher, neudeutsch gesagt, ist er ein Singer-Songwriter.
Der Auftritt in der evangelischen Kirche in Welzheim geht zu Ende. Liedermacher Chris bekommt viel Applaus – und eine Anfrage für einen nächsten Gig in der katholischen Kirche zu Welzheim.
Martin Tschepe
Erfinder der Waldfee
Christoph Jäger hat es nicht nur als Akteur auf der Bühne und beim Heavy-Metal-Festival in Wacken als Besucher krachen lassen. Zündende und kreative Ideen hatte er auch als Verwaltungschef. So hat er etwa die Schwäbische Waldfee erfunden. Diese Märchenfigur ist mittlerweile eine wichtige Werbeträgerin der Region. Und in Großerlach geht der „Weg der Lieder“, ein 13 Kilometer langer Themenweg, auf seine Initiative zurück.

