Themen des Artikels
Um Themen abonnieren und Artikel speichern zu können, benötigen Sie ein Staatsanzeiger-Abonnement.Meine Account-Präferenzen
Gemeindetagspräsident Steffen Jäger: „Auf einer Skala von eins bis zehn sind wir bei einer elf“

Steffen Jäger wurde als Präsident des Gemeindetags bestätigt. Seine zweite Amtszeit hat am 1. Februar begonnen.
Achim Zweygarth)Staatsanzeiger: Wie dramatisch ist die Lage in den Kommunen?
Steffen Jäger: Auf einer Skala von eins bis zehn sind wir bei einer elf. Die Kommunen können sich im Hinblick auf den Ist-Zustand zwar im nationalen und internationalen Vergleich vorzeigen lassen. Aber Bürgermeister und Bürgermeisterinnen spiegeln uns in aller Deutlichkeit wider, dass sie kaum noch Möglichkeiten sehen, die Zukunftsaufgaben und die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Sie sorgen sich um das Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit des Staates. Wir senden diese Alarmsignale seit Jahren an den Bund und die Länder. Sie müssen die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit wieder schließen. Nur so kann glaubhaft vor Ort vermittelt werden: Wir kriegen das hin.
Wie sieht es bei den Finanzen aus?
80 bis 90 Prozent der Kommunen sagen, dass sie auch im Jahr 2025 keinen ausgeglichenen Haushalt haben. Der weitere Blick ist düsterer: Für sehr viele Kommunen werden ab 2026 die Aufgaben nicht mehr erfüllbar sein, ohne sich zu überschulden.
Sie haben sich 2022 mit Verbänden in einem Brief an den Ministerpräsidenten gewandt und den Bürokratieabbau angemahnt. Was wurde seither erreicht?
Wir müssen das differenziert bewerten. Die drei Kommunalverbände und fünf Wirtschaftsverbände wollten eine Diskussion darüber anregen, ob wir die Aufgaben, die wir uns vorgenommen haben, noch leisten können – vor dem Hintergrund der Transformationsprozesse wie dem Klimawandel, der Digitalisierung, einer auch künftig erfolgreichen Volkswirtschaft. Bei diesen ganz grundsätzlichen Zielen waren wir bisher nicht erfolgreich. Auf der anderen Seite hat die Landesregierung die Entlastungsallianz geschaffen, die es in keinem anderen Bundesland gibt. Das jüngste Entlastungspaket beinhaltet Maßnahmen, die die Aufgabenerledigung in den Rathäusern erleichtern, etwa beim Vergaberecht und durch den Verzicht auf Gold-Plating. Wir haben erreicht, dass die politisch Verantwortlichen und die Gesellschaft erkannt haben, welche Begleiterscheinungen mit Bürokratie einhergehen.
Mit dem Regelungsabweichungsgesetz sollen Kommunen Regelungen aussetzen können. Könnten die Kommunalverbände diese bündeln?
Von dem Gesetzentwurf erwarten wir, dass wir manche Regelung angehen, die zwar aus einer guten Motivation heraus formuliert wurde, in der Realität aber schwer umzusetzen ist. Nach dem Motto: Wenn ihr es einfacher hinkriegt, dann dürft ihr es einfacher machen. Hier dürfen wir aber nicht zu viel erwarten, denn es ist auf landesrechtliche Regelungen zur kommunalen Aufgabenerledigung begrenzt. Nicht umfasst sind etwa fachrechtliche Rahmenbedingungen, die jedoch oftmals zu erheblichen Erschwernissen in den Rathäusern führen. Zudem könnte man manche Aufgabe komplett infrage stellen, weil sie nicht mehr in die Zeit passt.
Bräuchte es beim Bürokratieabbau nicht doch die Kettensäge?
Ich bin Hobbygärtner und weiß, dass die Wahl des richtigen Garteninstruments entscheidend ist. Zunächst sollten wir uns klarmachen, dass wir weniger Einzelfallgerechtigkeit und damit verbundene Regeln brauchen. Bei manchem Gesetz kann die Kettensäge das richtige Werkzeug sein, aber es wird auch viele Gesetze geben, bei denen dann eine filigrane Heckenschere besser ist. Wichtig ist, dass wir mutig anpacken. In der Summe müssen weniger Regulierung und Leistungsversprechen stehen.
Meinen Sie damit das Recht auf Ganztagsbetreuung?
Damit meine ich unterschiedliche Versprechen, aber gerade auf der kreisangehörigen Ebene steht der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule aktuell besonders im Fokus. Auch in der Kommunalpolitik erkennt man den Bedarf an Ganztagsbetreuung in der Grundschule. Aber ein paradoxerweise im SGB VIII geregelter Anspruch, der an die Landkreise adressiert, ist dazu der falsche Weg. Aber es der einzige Weg zwischen Bund und Ländern, der gegebenenfalls nicht das Konnexitätsprinzip auslöst. Wenn aber die daraus resultierenden Mehrbedarfe nicht gedeckt werden, vergrößert dies das kommunale Finanzierungsdelta nochmals um mehrere Hundert Millionen Euro jährlich. Wir haben das Gefühl, der Gesetzgeber hatte nur das Ziel vor Augen und nicht den Weg sowie die Frage, wie die Herausforderung gemeistert werden soll und auch ehrlich zu ermitteln, welche Mittel es dazu braucht und wo die Fachkräfte herkommen. Außerdem vermittelt der Rechtsanspruch ein weiteres Mal den Eindruck eines Vollkasko-Staates: Lehnt euch zurück, wir machen schon.
Welche Erwartungen haben Sie an eine neue Bundesregierung?
Die Städte und Gemeinden erwarten, dass der Bund und die Länder, sich bewusst sind, welche Aufgaben von den Kommunen in welcher Tiefe und Breite erfüllt werden können. Ganz konkret: Ob sich politische Zusagen und Versprechen in der realen Welt der Städte und Gemeinde auch abbilden lassen. Dafür braucht es dann das erforderliche Geld und das Personal. Und wenn man das tut, wird man erkennen: Wir müssen uns wieder mehr auf die Kernaufgaben des Staates besinnen.
Was halten Sie für verzichtbar?
Dass wir klimaneutral werden wollen, ist gesellschaftlicher Konsens. Hier müssen wir uns fragen, ob bestimmte Subventionen im Bundeshaushalt noch zeitgemäß sind, beispielsweise die Dieselsubvention. Man kann auch darüber diskutieren, ob die Subventionierung des Deutschland-Tickets der richtige Weg ist. Viel dringlicher wäre, die Angebote im ÖPNV auszubauen. Mit Blick auf den Bundeshaushalt und die Kreishaushalte müssen wir aber auch die Sozialausgaben in den Blick nehmen. Hier geht es nicht darum, Sozialleistungen insgesamt infrage zu stellen, aber die Grenze zwischen einem Hilfebedarf und einem Mitnahmeeffekt genauer zu ziehen. Eine Gesellschaft kann nur erfolgreich sein, wenn jeder das zu ihrem Gelingen beiträgt, was er zu leisten imstande ist. Es darf daher nicht zum Volkssport werden, möglichst viele Leistungen des Staates in Anspruch zu nehmen. Deutschland ist neben Belgien das Land in Europa, das am meisten umverteilt. Gleichzeitig ist die Zufriedenheit mit dem Staat so niedrig wie noch nie.
Könnten Kürzungen die Unzufriedenheit nicht weiter steigen lassen?
Hier braucht es den Konsens aller politischen Ebenen. Man muss ehrlich kommunizieren, dass die Leistungen des Staates begrenzt sind. Denn ohne die Konsolidierung des Haushalts werden wir die gesamtgesellschaftlichen Vorhaben nicht bewältigen können – unabhängig von einer Reform der Schuldenbremse.
Sie sagen, die Kommunen sind an der Belastungsgrenze bei der Aufnahme von Geflüchteten. Wie haben Sie die Debatte zur Beschränkung der Migration im Bundestag erlebt?
Wir haben das aufmerksam verfolgt. Es ist aber nicht die Rolle des Gemeindetags, dazu eine parteipolitische Einschätzung zu geben. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass das Maß an irregulärer Migration deutlich reduziert wird. Hier geht es nicht nur um die Ankunftszahlen, sondern auch um die Integration derjenigen, die bereits im Land sind. Uns melden die Kommunen, dass die Kapazitäten dafür überlastet sind. Das beginnt beim Wohnraum, geht über Kitas, Schulen bis hin zu den Integrationskräften.
Sie wurden als Gemeindetagspräsident wiedergewählt. Was haben Sie sich für die zweite Amtszeit vorgenommen?
Über den Schwerpunkt haben wir gesprochen. Dass Anspruch und Wirklichkeit wieder besser zusammenfinden. Wir wollen die Rolle der Kommunen im Gesetzgebungsverfahren so verbessern, dass es Fehlentwicklungen möglichst nicht mehr gibt.
Sie sind 46 Jahre. Können Sie sich vorstellen, etwas anderes zu machen?
Ich habe hier beim Gemeindetag eine Aufgabe gefunden, die ich aus tiefer Überzeugung annehme und erledige. Wir vertreten und unterstützen die Städte und Gemeinden, die konkret zum Gelingen der Gesellschaft beitragen. Diese Aufgabe ist in ihrer Sinnhaftigkeit nicht zu toppen.
Das Gespräch führten Rafael Binkowski und Philipp Rudolf
Zur Person
Im Dezember 2024 wurde Steffen Jäger als ehrenamtlicher Präsident des Gemeindetags für vier Jahre wiedergewählt. Zudem ist er Hauptgeschäftsführer des Verbands mit 1065 Mitgliedskommunen, der alle acht Jahre bestimmt wird. Der 46-Jährige war vor seiner Zeit beim Gemeindetag Bürgermeister von Oppenweiler (Rems-Murr-Kreis).