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Zwei Bücher: Was erfahren wir Neues über „Kretsche“?

Winfried Kretschmann.
IMAGO/ESDES.Pictures, Bernd Elmenthaler)Stuttgart . Das Buch beginnt mit einer Anekdote auf der Thüringer Wartburg im Jahr 2010, als der damals 62-jährige Grünen-Spitzenkandidat einem erlesenen Kreis von Journalisten, Beratern und Unternehmern vorgestellt wurde. Er entsprach nicht der Vorstellung, wie Grüne in diesen konservativen Kreisen aussahen: altmodische Anzüge, Bequemschuhe und ein Bürstenhaarschnitt. Und er sprach auch nicht wie ein junger Revoluzzer, die halbe Stunde verging wie im Flug.
Diese Szene beschreibt das Phänomen Kretschmann treffend. Die SWR-Journalistin Dagmar Seitzer, die seit 35 Jahren Politik in Berlin und Stuttgart beobachtet, hat viele Gespräche mit dem 77-Jährigen geführt, sie zeichnet das Bild eines pragmatischen Politikers, der wertkonservativ denkt, und nicht für die schnelle Schlagzeile, aber für verlässliche, durchdachte Politik steht.
Der Leser lernt, wie schwer der Abschied von Murawski fiel
Und dass Verlässlichkeit auch im Umgang mit langjährigen Weggefährten eine wichtige Größe ist. Das macht sich an einer Stelle im Buch deutlich: Als Klaus-Peter Murawski 2018 als Chef der Staatskanzlei aus gesundheitlichen Gründen zurücktreten musste. Murawski schildert diesen Abschied, der Kretschmann sehr schwer fiel, so: „Wir haben uns über alles ausgetauscht, was Menschen verbinden kann, wenn sie befreundet sind. (…) Die langen Abende mit ihm habe ich genossen. Wenn wir uns heute treffen, sagt er zu mir: Im Grunde kann dich keiner ersetzen.“
Der Leser erfährt auch, dass der Ministerpräsident die lange erwogene Idee, im Ruhestand noch einmal Theologie und Philosophie zu studieren, verworfen hat. „Kirchenführer zu werden, das könnte ich mir nun vorstellen. In Oberschwaben gibt es eine Menge Kirchen und Klöster, die sich zu besichtigen lohnen“, wird der Sigmaringer in dem Buch zitiert.
Interessant auch ein Ritual aus der Corona-Zeit: Binokel als iPad-Kartenspiel, das behielt er auch nach Ende der Pandemie bei: „Fast jeden Tag eine halbe Stunde vor dem Einschlafen, um den Kopf frei zu bekommen.“ Und er hat auch einen Ratschlag an den Nachfolger: Wer Ministerpräsident ist, solle die Familie nicht dem Amt opfern: „60-Stunden-Wochen mit klassischem Rückenfrei-Modell für die Partnerin, das ist aus der Zeit gefallen.“
Die Frömmigkeit sorgt in der Partei oft für Befremden
Die Autorin arbeitet die enge Bindung an den katholischen Glauben heraus, etwa mit der engen Freundschaft zu Bischof Gebhard Fürst, seinem Engagement im Zentralrat der Katholiken. Und sie hält fest, dass diese Frömmigkeit im grünen Umfeld mitunter Fremdeln auslöst.
Seitzer zeichnet das Bild eines „liberal-konservativen Grünen“ mit starkem Wertefundament und Sinn für Ordnung – flankiert durch die religiöse Verankerung und ein persönliches Pflichtethos, die ihn sich selbst nicht so wichtig nehmen lässt. Vielleicht passt dazu die Passage, als er 2011 völlig überraschend Wahlsieger war und sogar vor der SPD lag. Alle drängten sich um Kretschmann, er schilderte diese Szene so: „Man ist brutal beansprucht, das war ein wahnwitziger Ansturm. Das war ein solcher Overkill an Journalisten (…) Die ganze Überraschungsatmosphäre hat einem keinen Raum gelassen, um über irgendetwas nachzudenken.“ Solche bislang nicht gekannten Einblicke machen das Buch wertvoll, und zeigen einige ganz neue Seiten an „Kretsche“.
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