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Die Eingliederungshilfe wird zur Kostenfalle

Menschen mit Behinderung werden mit dem Bundesteilhabegesetz individuell beraten und gezielt unterstützt.
dpa/Westend 61)Stuttgart. Die Reform der Eingliederungshilfe gilt als tiefgreifender Wandel: Menschen mit Behinderung sollen keine pauschalen Leistungen mehr erhalten, sondern individuell beraten und unterstützt werden – mit einem Rechtsanspruch auf soziale Teilhabe. Was in der Idee richtig ist, führt in der Praxis jedoch seit Jahren zu einer massiven Kostensteigerung. Schon jetzt entfallen 63 Prozent aller Ausgaben der Landkreise auf den Sozialbereich. Von den rund zehn Milliarden Euro steuern die Kreise über die Hälfte als Zuschüsse bei. Mit 41 Prozent beziehungsweise 2,2 Milliarden Euro macht die Eingliederungshilfe davon den größten Anteil aus.
Abschlagszahlungen decken den Aufwand bei weitem nicht
Laut Achim Brötel (CDU), Präsident des Deutschen und baden-württembergischen Landkreistags, steht der eigentliche Kostenschub jedoch erst noch bevor. Das liege an der Mehrstufigkeit des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Zuerst habe der Landesrahmenvertrag verhandelt werden müssen, dann die Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen mit den Leistungserbringern. Jetzt müssten alle Einzelfälle in individuellen Verträgen geregelt werden. Erst das löse in der Regel aber die Kostenfolgen aus.
Allein in Stuttgart stiegen die städtischen Mittel in dem Bereich von 128 Millionen Euro auf 175 Millionen Euro in nur vier Jahren – ein Plus von 37 Prozent. In vielen Landkreisen gibt es ähnliche Steigerungen, teilweise liegen sie sogar deutlich darüber.
Das Land hat die Stadt- und Landkreise als Träger der Eingliederungshilfe bestimmt, kommt aber nach Ansicht Brötels seiner finanziellen Verpflichtung nur extrem schleppend und im Ergebnis nach wie vor völlig unzureichend nach. Zwar hat sich die Gemeinsame Finanzkommission jüngst auf 88 Millionen Euro Abschlusszahlung für die Jahre 2022 und 2023 geeinigt. „Über 2024, 2025 reden wir noch gar nicht. Das Land hat zwar seine Abschlagszahlungen erhöht. Dafür sind wir durchaus dankbar. Trotzdem laufen wir unserem Geld aber permanent hinterher. Und: Die richtig teuren Jahre kommen erst, wenn alle Einzelverträge umgestellt sind“, so Brötel. Die Abschlagszahlungen deckten den tatsächlichen Aufwand bei weitem nicht.
Kein anderes Bundesland hat einen solchen Flickenteppich
Hinzu kommt ein hoher bürokratischer Aufwand. Bei den Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen gebe es in Baden-Württemberg einen Wildwuchs ohnegleichen. Kein anderes Bundesland habe einen solchen Flickenteppich. Die Bereinigung sei zwar angestoßen, ziehe sich aber hin, so Brötel weiter.
Einen immensen bürokratischen Aufwand erkennen auch die Wohlfahrtsverbände, die als Leistungserbringer auf der anderen Seite des Verhandlungstisches stehen. „Der Bürokratieaufwand speist sich aber auch ein Stückweit aus einer Kontroll- und mangelnden Vertrauenskultur“, sagt Holger Wilms, Aufsichtsratsvorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Baden-Württemberg. Jede Leistung müsse nachgewiesen und dokumentiert werden – ein erheblicher Aufwand. Außerdem gebe es immer weniger frei verfügbare Gelder für die Klienten. „Wenn es uns gelänge, dass Leistungsträger und Erbringer wieder vertrauensvoll aufeinander zugehen, könnte man Vieles straffen und verschlanken“. Auch Wilms sieht die Kommunen bei den Kosten im Stich gelassen.
Landkreise führen intensive Diskussionen mit dem Land
Landkreistagspräsident Brötel betont trotz allem, wie wichtig die Reform für Menschen mit Behinderung ist. Das alte Vergütungssystem sei mit fünf Stufen eindeutig zu grob gewesen. Dennoch pocht er auf Nachbesserungen. „Auch deutlich pauschaliertere Lösungen können dem jeweiligen Einzelfall gerecht werden. Wir können nicht immer alles bis zur vierten Nachkommastelle regeln.“
Die Landkreise seien deshalb im intensiven Austausch mit dem Land – auch, um über den Bundesrat endlich eine praxistaugliche Überarbeitung des BTHG anzustoßen.