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Medizinische Grundversorgung 

Eine Praxis zu führen, wird für Hausärzte immer komplizierter

Viele Patienten stehen wegen des Ärztemangels ohne Hausarzt da. Nahezu flächendeckend könnten sich in Baden-Württemberg Allgemeinmediziner niederlassen. Das wollen aber immer weniger. Könnten Großpraxen oder Genossenschaftsmodelle helfen?

Vom Klinik- zum Hausarzt: Marcus Schwandt (links) und Florian Sattler haben 2020 eine Familienpraxis in Friedrichshafen übernommen.

Katy Cuko)

Friedrichshafen. Von der Klinik in die Hausarztpraxis: Diesen Schritt haben sich Florian Sattler und Marcus Schwandt gut überlegt. Beide Mediziner kennen sich lange und haben viele Jahre in Krankenhäusern gearbeitet; Florian Sattler als Anästhesist auf der Intensivstation und Notarzt auf dem Rettungshubschrauber in Friedrichshafen, Marcus Schwandt als Internist und Lungenfacharzt. Stress, lange Schichten und Nachtdienste gehörten zum Berufsalltag.

Als Familienväter veränderten sich ihre Prioritäten. Die Vorteile des Hausarzt-Daseins liegen für sie klar auf der Hand. Sein eigener Chef sein, weniger am Wochenende arbeiten und selbst entscheiden, wie man was macht: „Wir haben uns eine größere Arbeitszufriedenheit und familienfreundlichere Arbeitszeiten erhofft“, sagt Marcus Schwandt. Doch diesen Schritt in die Selbstständigkeit wollte keiner von ihnen allein gehen. Ein Grund, warum immer mehr Hausarzt-Praxen aufgegeben werden.

Im Januar 2020 haben sie eine Familienpraxis in Kluftern übernommen, ein Ortsteil von Friedrichshafen. Ein Glücksfall für beide Seiten. Die drei Hausärzte wollten in den Ruhestand und Nachfolger, die ihr Konzept fortsetzen. Zum Praxisteam gehörten zwei Kindermedizinerinnen, die sich den dritten Kassensitz teilten. Für den gab und gibt es allerdings nur eine Sonderzulassung, die immer wieder verlängert werden muss. „Der Bodenseekreis ist mit Kinderärzten überversorgt“, verweist Florian Sattler mit bitterem Unterton auf die Vorgaben der Kassenärztlichen Vereinigung (KV).

Wie sich die Situation im realen Leben darstellt, bewies die Not vieler Familien, die nach Schließung der einzigen Kinderarztpraxis in der Nachbarstadt Markdorf keinen anderen Pädiater fanden. Auch in Kluftern nicht: „Unsere Praxis ist voll“, sagt Marcus Schwandt. Er erinnert sich ungern an die Not von Eltern, die beim Empfang standen und „im Wechsel gebrüllt und geweint haben“, weil sie nicht wussten, wohin mit ihrem kranken Kind. Neue Patienten kann die Familienpraxis auch aktuell nicht aufnehmen, sofern sie nicht im Ort wohnen.

Das Modell Einzelpraxis ist bei Allgemeinmedizinern kaum mehr populär. Hausärztliche Gemeinschaftspraxen gibt es bereits viele, auch im Bodenseekreis. Aber auch dieses Modell ist nicht nach Belieben skalierbar. Maximal vier Vollzeit-Mediziner dürfen bei einem Vertragsarzt angestellt sein.

Wir haben nicht Medizin studiert, um Bürokratiemonster zu bearbeiten

In Kluftern wäre noch Luft nach oben. Mit zwei Ärztinnen in Weiterbildung – beide sind promoviert – sind derzeit insgesamt sechs Medizinerinnen meist in Teilzeit in der Familienpraxis angestellt. Wenn Ulrike Krauss im Sommer ihren Facharzt in Allgemeinmedizin in der Tasche hat, will sie als angestellte Hausärztin in Kluftern bleiben. „Dann haben wir vier Kassensitze“, erklärt Florian Sattler. Denn an Hausärzten mangelt es im Bodenseekreis, weil viele aufgehört haben und keinen Praxisnachfolger finden konnten. Für die angehende Kinderärztin Elisabeth Pfluger hingegen wird es von der KV wohl keine Genehmigung für eine Niederlassung geben. „Wenn das System nicht so starr wäre, würden wir gern einen halben Sitz dazu nehmen.“

Selbst wenn die Praxis Sattler & Schwandt erweitern wollte, sprechen für die Inhaber jedoch drei Gründe dagegen. „Räumlich sind wir absolut am Ende“, sagt Florian Sattler. Für mehr Ärzte und Patienten bräuchten sie auch mehr medizinische Fachangestellte, die schwer zu bekommen sind. Als drittes Gegenargument nennen beide den überbordenden Verwaltungsaufwand, obwohl sie einen Teil an externe Dienstleister ausgelagert haben. „Seit wir hier arbeiten, wird es immer noch komplizierter. Wir haben nicht Medizin studiert, um Bürokratiemonster zu bearbeiten. Manchmal ist das wirklich zum Verzweifeln“, klagt Marcus Schwandt. Als Inhaber der Großpraxis sind die beiden Mediziner zudem Chef von 14 Angestellten. Das bringt zusätzlichen Aufwand mit sich.

Vom Konzept Familienpraxis sind sie trotzdem überzeugt. Sie betreuen rund 4000 Patienten pro Quartal, vom Neugeborenen bis zum 100-Jährigen. Wenn das strikte System mehr zuließe, könnten sie fachlich noch mehr abdecken als heute. Marcus Schwandt etwa darf als Pneumologe im Hausarztkittel bestenfalls Schlafapnoe diagnostizieren, mehr aber nicht. Dabei gibt es auch zu wenig niedergelassene Lungenfachärzte.

Allein zwölf Hausarztsitze sind nur im Bodenseekreis mit seinen rund 260 000 Einwohnern frei. „Allein will das keiner mehr“, ist Florian Sattler überzeugt. Ohne seinen Berufskollegen wäre er vor fünf Jahren den Schritt nicht gegangen.

Der Ärztemangel hat den Bodenseekreis längst eingeholt

Marcus Schwandt ist der gleichen Meinung. „Allein? Auf keinen Fall, nicht auszudenken“, sagt er. Die Arbeit selbst im Team sei sehr intensiv, Überstunden nicht zu vermeiden, weil der Andrang oft groß ist. „Die Grenze zur Frustration ist ab und an schnell erreicht“, gibt Marcus Schwandt zu. Aber sie sehen ihre Praxis wie eine große Familie. „Jeder geht gern noch einen Extrameter für Kollegen und Patienten.“ Vor allem dann, wenn sie nachts oder am Wochenende noch Bereitschaftsdienst haben. Solche Belastungen seien im Team einfach besser zu kompensieren, ergänzt Florian Sattler.

Diese Rechnung kennt auch Oliver Schäfer, Leiter des Gesundheitsamtes im Bodenseekreis. „Die freien Arztsitze können nicht mehr eins zu eins nachbesetzt werden. Einzelkämpfer sind eben nicht mehr zeitgemäß“, sagt er. Zwar ist seine Behörde nicht für die medizinische Grundversorgung zuständig; das ist Sache der Kassenärztlichen Vereinigung. „Aber die Themen schlagen ja trotzdem bei uns auf“, stellt der Amtsleiter einen „akuten Handlungsbedarf“ fest.

Der Ärztemangel hat den Bodenseekreis schon lange eingeholt. Und die Situation dürfte sich verschärfen. Rund ein Drittel der Hausärzte zwischen Sipplingen und Kressbronn ist 60 Jahre und älter. 16 von insgesamt 146 Allgemeinmedizinern mit Kassenzulassung waren nach Angaben der KV Baden-Württemberg im vergangenen Jahr bereits im Rentenalter. Gehen nur zwei oder drei Ärzte von ihnen ohne Nachfolger in den Ruhestand, stehen auf einen Schlag 3000 bis 4500 Patienten ohne Hausarzt da.

Eine Lösung für dieses Dilemma könnte eine Genossenschaft sein, die ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) betreibt. Wobei das zumindest anfangs kein Haus, sondern eher ein organisatorisches Dach wäre, unter dem sich Ärzte auch mit Hilfe von Kommunen zusammenschließen können. Diesen Vorschlag versuchen Nicole Pottharst und Elena Dreher vom Gesundheitsamt seit Monaten bei Kommunen und Ärzten zu platzieren. Der Landkreis selbst kann kein genossenschaftliches MVZ gründen oder betreiben. „Wir versuchen, den Impuls zu setzen und das Ganze zu moderieren“, erklärt Projektleiterin Nicole Pottharst.

Gesundheitsamt sieht das gesamte System im Wandel

Ob Ärzte oder Kommunen auf diesen Zug aufspringen? „Das Modell ist sehr flexibel und kann helfen, Löcher im Versorgungsnetz zu stopfen“, glaubt Oliver Schäfer. Sein Amt arbeite eng mit der Kreisärzteschaft zusammen und habe den Stein ins Rollen gebracht. Nun müsse man schauen, was sich daraus entwickelt. „Das gesamte Gesundheitssystem ist im Wandel. Es wird nicht mehr in jedem Dorf eine Praxis geben“, prognostiziert Nicole Pottharst.

Anderswo ist man mit diesem Modell schon weiter. In Leutkirch im Nachbarlandkreis Ravensburg hat die Stadt, vertreten durch Oberbürgermeister Hans-Jörg Henle (parteilos) , mit sieben Hausärzten und der Beratungsfirma Diomedes im Sommer vergangenen Jahres eine Genossenschaft für Hausärzte gegründet, die den Namen LeuMed trägt.

Für diese Rechtsform spreche vor allem das geringe Haftungsrisiko und die Möglichkeit, die Genossenschaft gemeinwohlorientiert auszurichten. „Zudem kann so vermieden werden, dass Finanzinvestoren in Zukunft die Praxen übernehmen“, erklärte Oberbürgermeister Henle die Motivation der Stadt, sich direkt zu beteiligen.

Um in den operativen Betrieb zu kommen, muss einer der beteiligten Ärzte seine Praxis in die Genossenschaft einbringen. Dann arbeiten dieser Arzt und sein Personal als Angestellte weiter. Mittelfristig soll das MVZ in neuen Räumen untergebracht werden. Parallel soll es Zweigniederlassungen in Ortschaften geben. Seit Januar ist die Stelle eines Geschäftsführers für die LeuMed ausgeschrieben.

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