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Michael Giss: „Es geht jetzt um Amtshilfe für die Bundeswehr“

Michael Giss, Kommandeur des Landeskommandos Baden-Württemberg, will Landkreise, Kommunen, Bürger und Unternehmen für die Gefahr durch Russland sensibilisieren.
dpa/Markus Lenhardt)Staatsanzeiger: Nur jeder Vierte im Land will im Kriegsfall zur Waffe greifen, um es zu verteidigen. Besorgt Sie das?
Michael Giss: Das stimmt mich traurig. Wir leben in einem großartigen Land, mit einer freiheitlich demokratischen Grundordnung und einem beispiellosen Grundgesetz. Ein Land, das jedem alle Möglichkeiten bietet. Das ist es wert zu verteidigen, wenn es darauf ankommt.
Wie kommt man weg von dieser Vollkasko-Mentalität, wie Sie es nennen?
Die nehme ich in verschiedenen Bereichen wahr. In weiten Teilen der Bevölkerung gibt es eine grundsätzliche Anspruchshaltung: Wenn es ein Problem gibt, kommt jemand und regelt es. Man muss den Menschen klar machen, dass sie mit diesem Gesamtgefüge, mit dem Staat, mit dem Wohlstand selbst etwas zu tun haben. Aufzeigen, dass jeder etwas dazu beitragen und sich einbringen sollte. Im schlechtesten Fall eben auch, wenn uns einer angreift.
Viele, die nicht zur Waffe greifen, wollen einfach keine Gewalt ausüben.
Diese pazifistische Grundhaltung kann ich menschlich sehr gut nachvollziehen. Keiner möchte anderen Leid zuzufügen. Aber als Staat muss ich eine Güterabwägung machen, wenn ein Feind von außen droht. Ich muss Wohl und Wehe meiner Bevölkerung schützen. Dazu verpflichtet das Grundgesetz und dazu muss ich eben auch Streitkräfte einsetzen. Das ist eine politische, ethische und juristische Güterabwägung.
Nun mussten viele Menschen sich zum Glück, bislang nicht mit Krieg beschäftigen. Dafür jetzt ein Bewusstsein zu schaffen ist schwer. Braucht es daher mehr Bundeswehr in den Schulen?
Die Jugendoffiziere in Baden-Württemberg sind relativ gut ausgelastet, aber es gibt zu wenige von ihnen. Wir müssen die Wehrfähigkeit früh in die Erziehung und Ausbildung unserer Kinder einfließen lassen. Sie müssen in dem Bewusstsein groß werden, dass sie hier ein recht unbeschwertes Leben genießen. Draußen in der Welt sieht es aber anders aus. Dieses Leben ist etwas, was man bewahren und beschützen muss. Man kann nicht erst mit 30 Jahren anfangen, sich darüber Gedanken zu machen. Das ist ein Thema, das Teil des Schulunterrichts sein sollte.
Das gilt auch für das Bewusstsein der Bürger.
Ja. Wir sind in der Friedensdividende der letzten 30 Jahre globalisiert und digitalisiert worden. Wir kennen praktisch keine Entfernungen mehr. Wir leben in einer ganz anderen Welt als noch im Kalten Krieg. Aber nichtsdestotrotz ist die Staatsform, die wir haben, die Rechtsform und der Liberalismus, der sich daraus ableitet, ein zu schützendes Gut.
Kommuniziert die Politik das genug?
Das ist schwer zu beurteilen. Was ich aber feststelle, ist, dass uns der Angriff auf die Ukraine, geweckt hat. Das nicht friedliche Verhalten Russlands konnten wir schon Jahre davor beobachten. Das haben wir aber nicht ausreichend zur Kenntnis genommen und die Politik hat das auch nicht als Schwerpunkt kommuniziert. Der Ukraine-Krieg findet nun in unserer unmittelbaren Nachbarschaft statt und dadurch sind alle entsprechend alarmiert.
Wobei der Krieg für viele immer noch sehr weit weg zu sein scheint.
Gefühlt mag das für manche so sein. Aber das ist eben nicht richtig. Es sind nur zwei, drei Flugstunden.
Also sollte mehr kommuniziert werden?
Die Bundesregierung kommuniziert das schon. Die Zeitenwende war ein wichtiger Schritt. Der Bundesverteidigungsminister macht viel, ist in der Presse sehr präsent. Es ist auch Aufgabe der Landeskommandos der Bundeswehr zu sensibilisieren und auf die neue Lage aufmerksam zu machen. Die Landesregierungen setzen das sehr unterschiedlich um.
Wie ist es in Baden-Württemberg?
Unsere Kontakte ins Innenministerium sind sehr gut. Ich bin froh, dass Innenminister Strobl das Thema Zivilschutz auf seiner Agenda hat und das Thema anfängt, nach vorne zu bringen. Wir sind auch mit anderen Ministerien in guten Gesprächen. Die Wirtschaftsministerin hat das Thema Verteidigungswirtschaft in den Fokus gerückt. Das Staatsministerium hat dazu einen runden Tisch gebildet. Ich nehme wahr, dass das Ländle jetzt auch beim Thema Wehr- und Kriegstüchtigkeit vorankommt. Es wird aber auch Zeit. Ich begrüße es sehr, dass dies jetzt von politischer Seite angeschoben ist, auch wenn andere Bundesländer dies schon früher getan haben.
Die SPD im Bund will in der aktuellen Legislatur nicht über eine Wehrpflicht reden. Nun mangelt es der Bundeswehr aber vor allem an Personal.
Ich möchte von hier aus die Bundes-SPD und ihr Vorgehen nicht bewerten. Aber als Offizier muss ich sagen: Ja, uns fehlt viel aktives Personal. Hier haben wir nicht mal unsere Sollstärke erreicht. Zudem fehlen uns Reservisten. Die Ideen zu einer Wehrpflicht, wie sie auch der Bundesminister der Verteidigung formuliert, zielen darauf ab, Männer und Frauen auszubilden, welche uns bei Bedarf als Reservisten zur Verfügung stehen. Das ist also eine Investition in die Verteidigungsfähigkeit der Zukunft.
Reicht denn ein freiwilliges Modell?
Glaubt man den Aussagen der Experten in Berlin und Bonn, soll es funktionieren. Persönlich halte ich dies für unwahrscheinlich. Mein Eindruck ist, dass wir eine Wehrfähigkeit, Kriegstüchtigkeit und Sollstärke der Streitkräfte nicht auf freiwilliger Basis erreichen werden. Nach 30 Jahren Friedensdividende fehlt es doch noch etwas an Grundüberzeugung bei jedem und jeder.
Sie werden nicht müde, auf die Bedrohungslage hinzuweisen. Was würde es denn für den Südwesten bedeuten, wird Russland an der NATO-Ostflanke aktiv.
Die NATO würde mit Truppen an der Ostflanke aufmarschieren, um die russische Regierung abzuschrecken. Deutschland wäre dann rückwärtiges Gebiet, nicht mehr Frontstaat wie im Kalten Krieg. Die Aufmarschbewegung an die Ostflanke geht durch Deutschland durch. Da muss man militärisch sehr viel planen und vorbereiten. Das sind riesige Mengen an Mensch und Material, die durch Deutschland durchrollen. Auf allen möglichen Wegen, zur Straße, zu Wasser, auch die Flughäfen wären betroffen. Und wenn wir für die NATO wichtig sind, sind wir es auch für den Gegner. Da steigt meiner Ansicht nach die allgemeine Gefahrenlage noch weiter an.
Nimmt man allein die Logistik: Da müssen Landkreise und Kommunen, aber auch Bürger, an einem Strang ziehen.
Das erfordert sehr viel Planungsarbeit. Denken wir etwa an Rast-Räume, das muss man mit Landkreisen und Kommunen planen und abstimmen. Da braucht es die Unterstützung aller und es wird den normalen Alltag beeinflussen. Wir leben dann zwar immer noch im Frieden, es wird noch nicht geschossen, aber so manche Autobahn und Bundesstraße wird voll sein. Es werden durch hybride Gegneraktionen Lieferketten gestört, es wird Fake News geben, es werden Leute auf der Straße Krawall machen. Es gibt viele Szenarien und darauf muss man die Bevölkerung rechtzeitig hinweisen.
Wer macht das?
Das kann zu einem bestimmten Teil das Landeskommando tun. Aber die Hauptverantwortung liegt beim Bund und bei den Ländern bis runter in die kommunale Ebene. Noch kann man unaufgeregt die Leute schon mal mit ins Boot nehmen und darauf hinweisen, dass sich die Zeiten auch mal ändern können.
Eine große Rolle mit Blick auf die Wehrhaftigkeit spielen Reservisten.
Sie sind deshalb wichtig, weil sie diejenigen sein werden, die die militärische und kritische Infrastruktur schützen. Und sie werden im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit die Sicherheitsbehörden verstärken und unterstützen. Die aktive Truppe der Bundeswehr ist im Spannungsfall, wenn wir abschrecken müssen, an der Ostflanke.
Der Katastrophenschutz muss dann die Bundeswehr unterstützen.
Das ist eine Kernbotschaft, die wir jetzt auch in Richtung Politik und Blaulichtfamilie senden. Es geht dann um die umgekehrte Amtshilfe zur Unterstützung der Bundeswehr. In der Friedensdividende wurde viel abgebaut. Ich habe hier keine Feldküche mehr oder ein Lager mit tausend Betten, das gibt es alles nicht mehr. Deshalb werden die Streitkräfte dann die zivile Welt um Unterstützung bitten müssen. Man muss der Politik, den Gemeinden, den Landkreisen, den Unternehmen jetzt schon mal sagen, was da auf sie zukommen kann. Unsere Kreisverbindungskommandos sind quasi das Scharnier zwischen Bundeswehr und Zivilschutz. Sie leisten wichtige Arbeit. Sie sind unsere Stimmen, unsere Sensoren in der Fläche, beraten Landkreise und Kommunen. Jetzt bekommen sie mit dem Operationsplan Deutschland weitere Aufgaben dazu.
Stichwort Operationsplan: Er sorgt vielerorts für Verunsicherung, da er – weil als geheim eingestuft – eine unbekannte Größe ist.
Es ist noch nicht die Zeit, konkret etwas zu tun. Es geht darum, alle gedanklich mitzunehmen. Es muss klar werden, dass die unbedrohte Zeit zu Ende ist, dass sich das Handeln am Gegner, an Russland, orientiert. Der Operationsplan ist als geheim eingestuft, ich kann darüber noch nicht sprechen. Wenn die Bundeswehr mit der NATO entsprechende Planungen finalisiert hat, wird ein Teil des Operationsplans runtergestuft werden. Dann kann und wird es Gespräche mit Politik und Blaulichtfamilie geben. Ich rechne damit im nächsten Jahr. Im Moment geht es um Sensibilisieren und mentales Aufstellen.
In eigener Sache:
Das Landeskommando nimmt am BOS-Tag des Staatsanzeigers teil. Die Fachtagung zur zivil-militärischen Zusammenarbeit findet am 11. November im Landratsamt Ludwigsburg statt. Programm und Anmeldung unter: https://akademie.staatsanzeiger.de/bos-tag-2025
Zur Person
Kapitän zur See Michael Giss führt das Landeskommando Baden-Württemberg seit September 2024. Nach bundesweiten Stationen, vor allem an der See, kehrt der gebürtige Freiburger in sein Heimatbundesland zurück. Der 61-Jährige führt als Kommandeur die oberste territoriale Kommandobehörde der Bundeswehr in Baden-Württemberg. Sie dient als Ansprechpartner für die Landesregierung in Fragen der zivil-militärischen Zusammenarbeit. Im Landeskommando werden Unterstützungsanfragen gebündelt und bearbeitet.