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Essay zum Grünen-Bundesparteitag

Gibt es doch ein richtiges Leben im falschen Leben?

Der Streit um die Asylpolitik zeigt, wie schwer es ist, grüne Ideale und Realität unter einen Hut zu bringen und wie sehr dies die Partei entzweit. Politikredakteur Michael Schwarz hat die Auseinandersetzung zwischen Grünen-Jugend und -Establishment auf dem Bundesparteitag in Karlsruhe verfolgt.

Robert Habeck (Grüne), Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, musste sich beim Bundesparteitag in Karlsruhe heftiger Angriffe der Parteijugend erwehren.

picture alliance/dpa/Kay Nietfeld)

Karlsruhe . Das hätte sich die Linke bis vor kurzem auch nicht träumen lassen. Am Wochenende haben ihr die Grünen ein Alleinstellungsmerkmal überlassen, das lange zur DNA der Ökopartei zählte. Nun steht der Kampf gegen jede Form der Asylrechtsverschärfung nur noch im Wahlprogramm von Carola Rackete, während die Grünen ein Papier verabschiedeten, das die verräterische Überschrift „Humanität und Ordnung“ trägt.

Die Grünen haben sich selbst aus dem Spiel genommen, als sie der Argumentation von Robert Habeck folgten. Der hatte in einer hochemotionalen Debatte auf dem Bundesparteitag in Karlsruhe der Grünen Jugend zugerufen: „Macht euch klar, dass das kein Spiel ist.“ Er verstehe ja, was die junge Leute umtreibt, doch wenn sie per Parteitagsbeschluss jedes Regierungsmitglied zwängen, zu jeder Asylrechtsverschärfung nein zu sagen, sei dies nichts anderes als die Aufforderung, die Regierungen, an denen die Grünen beteiligt sind, zu verlassen.

Deutschland hat EU-weit die meisten Flüchtlinge aufgenommen

Das ist natürlich Unsinn, denn ein gewisses Maß an Sturheit ist in der Politik nicht nur erlaubt, es kann auch dazu führen, dass eine Minderheitenposition mehrheitsfähig wird. Andererseits darf man sich gerade in dieser Debatte der Realität nicht verweigern. Und die sieht nun einmal so aus, dass Deutschland seit 2015 weltweit mit Abstand die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat, wenn man jene Staaten nicht mitzählt, die wie die Türkei und der Iran direkt an eine Krisenregion grenzen. Und dass die Willkommenskultur von 2015/16 einer deutlich reservierteren Haltung gewichen ist – auch aus der Erfahrung heraus, dass beim Thema Flüchtlinge, wenn man sich in Europa umschaut, jeder sich selbst der Nächste ist. Zudem sind viele Kommunen längst am Limit angekommen.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Grünen in einer zentralen Frage umknicken beziehungsweise die Realität zur Kenntnis nehmen – je nach dem, wie man den Schritt wertet. Joschka Fischers Rede vor dem Grünen-Parteitag in Bielefeld im Mai 1999 war so eine Wegmarke. Damals rechtfertigte der Außenminister einen Nato-Einsatz im Kosovo, der für viele bis heute als völkerrechtswidrig gilt.

Fischers Rede öffnete die Tür für die erste Bundesregierung mit grüner Beteiligung. Als die Grünen 2021 den Erfolg wiederholten – nach 16 langen Jahren in der Opposition –, standen sie im Zenit ihrer Beliebtheit . Viel hätte nicht gefehlt, und sie hätten den Bundeskanzler gestellt; bedauerlicherweise hatten sie nicht den aussichtsreichsten Kandidaten, ins Rennen geschickt. Doch seither läuft es nicht mehr rund für die Ökopartei. Robert Habeck wird in Sachen Popularität nach hinten durchgereicht. Annalena Baerbock war immer schon eher für die Seele der Partei als für die Außenwirkung zuständig. Und Winfried Kretschmann wird im Rest der Republik längst nicht mehr so positiv wahrgenommen wie noch vor ein paar Jahren.

Habeck und Baerbock zeigen sich äußerst dünnhäutig

Der Wind – er bläst den Grünen ins Gesicht. Und sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Nicht nur Robert Habeck, auch Annalena Baerbock zeigte sich in Karlsruhe äußerst dünnhäutig. Sie könne das, was von ihr verlangt werde, nicht einhalten, rief sie der Grünen Jugend entgegen. Letztlich stimmte eine große Mehrheit der Delegierten gegen deren Antrag. Ob aus Überzeugung oder weil sie sich dem Druck der Parteigranden nicht erwehren konnten? Vermutlich eine Mischung aus beidem.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen Leben“ , sagte Theodor Adorno unter dem Eindruck des Faschismus. Christian Lindner kommentierte das Scheitern der Sondierungen 2017: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“

Kretschmann fordert klaren Kompass und Realitätssinn

Winfried Kretschmanns Botschaft an die Delegierten in Karlsruhe war eine andere: Die Grünen müssten zu „Kompromissen auf festen Grundsätzen mit einem klaren Kompass und Realitätssinn“ bereit sein , „denn unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben“. Deutschland sei im europäischen Vergleich „in der glücklichen Lage“, dass alle demokratischen Parteien gegen rechts zusammenstehen, fuhr er fort. Deshalb brauche es auch weiterhin einen Kurs „des richtigen Maßes, der richtigen Balance zwischen Humanität und Ordnung gemeinsam mit den anderen demokratischen Kräften“.

Der 75-jährige Ministerpräsident käme nie auf die Idee, diese Zusammenarbeit, die auch die CDU einschließt, aufzugeben, nur weil die Schrauben in Sachen Asyl etwas angezogen werden sollen. Die reine Lehre, das weiß Kretschmann, der dabei war, als die Grünen 1979 in Karlsruhe gegründet wurden, hat es nie leicht. Jetzt müssen Kretschmann, Habeck und Baerbock davon nur jene überzeugen, die noch ungetrübte Ideale im Herzen tragen.

Michael Schwarz

Redakteur Politik und Verwaltung

0711 66601-599

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